Marissa Blumenthal 02 - Trauma
vorfahren.«
»Mach ich, meine Liebe«, sagte Tristan und fuhr einen knappen halben Meter weiter.
Marissa las: »Cherry Lane.«
»Cherry Lane?« wiederholte Tristan. Dann vertiefte er sich in die selbstgezeichnete Kartenskizze. »Ich werde nicht daraus schlau.«
»Vielleicht fahren wir über den Hügel zurück und erkundigen uns bei der letzten Tankstelle«, sagte Marissa. Sie waren vor wenigen Minuten daran vorbeigekommen.
Ruckartig schoß Tristans Kopf hoch. »Hör mal, ich kann das verdammte Haus auch allein finden, okay?«
Einen Augenblick lang funkelten sie sich böse an. Dann brachen sie beide in befreiendes Gelächter aus.
»Entschuldige«, sagte Tristan. »Ich bin wohl etwas nervös. Wollte aber nicht gleich ausflippen.«
»Ich auch nicht«, sagte Marissa. »Wir sind wohl beide noch stark im Streß.«
»Das ist eine Untertreibung«, sagte Tristan. »Ich weiß ja noch nicht mal, ob Chauncey mich wiedererkennt. Es sind über drei Jahre her.«
»Aber er ist doch schon sechs«, sagte Marissa. »Bestimmt erkennt er dich wieder. Ich weiß nur nicht, was er von mir halten wird.«
»Hör auf meine Worte!« sagte Tristan. »Er wird dich liebhaben.«
»Falls wir je hinkommen«, sagte Marissa.
»Hab Vertrauen zu mir!« sagte Tristan. Er schaute wieder auf seine Kartenskizze. »Wenn wir bloß diese Conolly Avenue finden könnten!«
»An der sind wir gerade vorbeigefahren«, sagte Marissa. »Ich glaube, es war die letzte Querstraße.«
»Ja, dann brauchen wir ja nur zu wenden«, sagte Tristan und schlug das Lenkrad scharf links ein. »Man kommt hier ganz durcheinander, weil ihr immer auf der falschen Straßenseite fahrt.«
Sie fuhren zurück, und die nächste Querstraße war die Conolly Avenue, die zur Green Street führte. Nach einer Viertelstunde hielten sie vor einem weißen Haus im viktorianischen Stil mit Schindeldach. Auf der Rasenfläche davor stand ein Schild mit der Aufschrift: OLAFSON.
»So, da wären wir«, sagte Tristan und blickte auf das Haus.
»Ja«, sagte Marissa. »Wir haben es geschafft.« Aber keiner traf Anstalten auszusteigen.
Marissa war besonders nervös. Die Olafsons, Tristans Schwiegereltern, hatten seinen Sohn Chauncey in den letzten drei Jahren bei sich aufgezogen. Marissa kannte sie nicht und hatte Chauncey noch nie gesehen. Sie und Tristan hatten sich bis jetzt unter den Fittichen des FBI versteckt gehalten, und man hatte es für unklug gehalten, sich in dieser Zeit mit ihnen zu treffen. Erst heute, am Erntedanktag, war es gestattet worden.
Die Monate nach ihrer Rückkehr aus dem Fernen Osten hatten sich in die Länge gezogen. Die Regierung hatte sie nach Montana bringen lassen, wo sie in einer Kleinstadt ein Haus bezogen. Zuerst war es für Marissa eine schwierige Zeit gewesen. Sie brauchte lange, um sich mit Roberts Tod abzufinden. Und lange Zeit litt sie an Schuldgefühlen. Viel trug der Umstand zu ihrem Kummer bei, daß er zu einem Zeitpunkt sterben mußte, als sie gerade so schlecht miteinander auskamen.
Tristan war eine große Hilfe für sie gewesen. In gewissem Sinne hatte er ja einmal das gleiche durchgemacht. So konnte er ihr alles nachfühlen. Er wußte, wann er mit ihr sprechen mußte und wann nicht.
Nicht nur Roberts, sondern auch Wendys Tod war für sie schwer zu verwinden. Es dauerte monatelang, bevor die allnächtlichen Alpträume von Haien aufhörten. Sie fühlte sich auch am Tod ihrer Freundin schuldig.
Schließlich hatte mal wieder die Zeit alle Wunden geheilt. Allmählich fand Marissa zu ihrem alten Selbst zurück. Sie nahm auch wieder das tägliche Lauftraining über mehrere Kilometer auf. So verlor sie die zusätzlichen Pfunde, die die IVF-Behandlung mit sich gebracht hatte, und das stärkte ihre Moral.
»Wir sollten jetzt reingehen«, sagte Tristan. Aber kaum hatte er es gesagt, da öffnete sich die Haustür und heraus kam ein Ehepaar mit einem Kind.
Tristan stieg aus. Marissa folgte seinem Beispiel. Sie warfen die Wagentüren zu. Einen Augenblick lang blieben sie wie angewurzelt stehen und sagten kein Wort.
Marissa betrachtete das Kind. An seinen Haaren und der Form des kleinen Gesichts erkannte sie Tristan wieder. Dann suchte ihr Blick das Ehepaar. Es war jünger, als Marissa sich vorgestellt hatte. Der Mann war groß und schlank mit scharfen Gesichtszügen. Die Frau war klein.
Ihr kurzes Haar war graumeliert. Sie hatte ein Papiertaschentuch in der Hand. Da wußte Marissa, daß sie geweint hatte.
Verlegen machte man sich bekannt. Elaine
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