Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Olafson kämpfte noch immer mit den Tränen. »Entschuldigung«, sagte sie. »Aber das Wiedersehen mit Tristan erinnert mich so schmerzlich an Evas Verlust. Und dann ist uns auch Chauncey ans Herz gewachsen.«
Eine Weile klammerte Chauncey sich an Elaines Beinen fest. Sein Blick wanderte schnell zwischen Marissa und seinem Vater hin und her.
Marissa konnte nicht anders, sie empfand Mitgefühl mit Elaine. Die Frau hatte ihr einziges Kind verloren und sollte nun auch noch den Enkelsohn verlieren, für den sie drei Jahre lang gesorgt hatte.
Als sie ins Haus traten, roch Marissa den wunderbaren Duft von gebratenem Truthahn. Das Erntedankfest hatte sie immer gern gefeiert. Sie hatte noch wunderbare, herzliche Erinnerungen an die Ernte-
danktagessen in Virginia. Da hatte sie sich immer so behaglich und geborgen gefühlt.
Tristan und Eric verzogen sich bald mit Bierdosen in der Hand in das Herrenzimmer, um sich eine Football-Übertragung anzusehen. Marissa und Elaine begaben sich in die Küche. Nach anfänglicher Schüchternheit wollte Chauncey in beiden Räumen zugleich sein. Alle paar Minuten wechselte er von der Küche ins Herrenzimmer und zurück. Tristan hatte beschlossen, nichts zu überstürzen. Er wollte Chauncey Gelegenheit geben, sich wieder an ihn zu gewöhnen.
»Sagen Sie mir, womit ich Ihnen helfen kann!« sagte Marissa zu Elaine. Sie wußte, ein solches Abendessen machte viel Arbeit.
Elaine sagte ihr, sie solle sich irgendwo hinsetzen, aber Marissa blieb hartnäckig. Bald war sie dabei, den grünen Salat zu waschen. Sie unterhielten sich über den Vormittagsflug von Butte in Montana nach San Francisco. Als Elaine ruhiger wurde, kamen sie auf persönlichere Dinge zu sprechen.
»Tristan hat Eric am Telefon gesagt, daß Sie heiraten wollen, nicht wahr?« sagte Elaine.
»Ja«, sagte Marissa, »das haben wir vor.« Es fiel ihr selber schwer, es zu glauben. Noch vor wenigen Monaten hätte sie sich solch einen entscheidenden Schritt nicht vorstellen können. Nur langsam war aus ihrer Freundschaft eine Romanze geworden, die in der Zeit des erzwungenen Versteckspielens allmählich aufblühte. Zu Marissas Verwunderung war daraus plötzlich eine tiefe Leidenschaft geworden.
»Und Sie werden Chauncey adoptieren?« fragte Elaine. Sie holte den Truthahn aus dem Herd und legte ihn auf eine Bastunterlage.
»Ja«, sagte Marissa und sah Elaine an. Sie wartete darauf, daß die Frau ihren Blick erwiderte. »Ich weiß, wie schwer das für Sie ist«, sagte sie. »Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr Ihnen der Junge fehlen wird. Deshalb will ich Ihnen etwas sagen. Tristan und ich haben vor, hier nach Berkeley zu ziehen, damit Chauncey nicht in eine andere Schule muß. So bleibt er auch in Ihrer Nähe. Sie und Eric können ihn so oft sehen, wie Sie wollen. Ist ja klar, daß die Veränderung für Chauncey genauso schwer sein wird wie für Sie. Wir wollen unser Mögliches tun, um es für alle leichter zu machen.«
»Das ist wunderbar«, sagte Elaine und lächelte zum erstenmal, seit sie eingetroffen waren. »Davon hatte ich ja keine Ahnung. Ich dachte, Sie würden nach Australien gehen.«
»Nein«, sagte Marissa. »Fürs erste ist es für uns beide besser hierzubleiben. Wir haben eine Menge hinter uns und wollen einen neuen Anfang machen.«
Mit der unerwarteten Nachricht über den geplanten Umzug nach Berkeley hob sich Elaines Stimmung merklich. »Eric und ich haben Sie beide in Good Morning America und in 60 Minutes gesehen. Als wir hörten, was in diesen Kliniken getrieben wird, waren wir entsetzt. Unglaublich, was manche Menschen für Geld alles tun!«
Marissa nickte.
»Dann hat Charlie Gibson aber etwas gesagt, worüber ich lachen mußte«, fuhr Elaine fort. »Er verglich die Schließung der Frauenklinik-Kette mit der Inhaftierung von Al Capone.«
»Das war etwas ironisch ausgedrückt«, sagte Marissa.
»Ganz recht«, sagte Elaine. »Es ist ja bekannt, daß man Capone nicht wegen seiner Kapitalverbrechen, sondern nur wegen Steuerhinterziehung verurteilen konnte. Aber nach all dem, was diese elenden Ärzte angerichtet haben, leuchtet es einem kaum ein, daß man sie nur wegen Verstoßes gegen das Gesetz über illegale Einwanderung belangen kann.«
»Wenigstens wurden die Kliniken geschlossen«, sagte Marissa. »Es war eben unmöglich zu beweisen, daß das BCG, mit dem man Tausende von Frauen infiziert hat, aus den betreffenden Kliniken stammte das war das Problem. Aber sie sind noch nicht aus dem Gröbsten
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