Mark Beamon 01 - Der Auftrag
und kam zu ihm gerannt. Er kniete sich hin und strich ihr übers Haar.
»Was hast du denn getrieben, Diedre? Dein Zopf fällt ja schon ganz auseinander. Dabei hab ich heute Morgen eine halbe Stunde gebraucht, um dich so hübsch zu machen.«
Sie biss sich kichernd auf die Fingerknöchel.
»Ich muss mal kurz weg, okay? Du bist brav und ärgerst Mama nicht, ja?«
Sie nickte. Wenn sie ihn anlächelte, vergaß er jedes Mal, wer er war. Er kümmerte sich um sie – und dadurch war er genauso wichtig wie irgendein reicher Weißer. Vielleicht sogar noch wichtiger.
»Also, ich bin in einer Stunde wieder da. Wenn du brav bist, mach ich dir einen neuen Zopf. Wenn nicht, musst du für den Rest des Tages zerzaust rumlaufen.«
Sie wandte sich um und rannte zurück ins Schlafzimmer. Er schaute ihr nach, bis sie verschwunden war, und drückte dann die Wahlwiederholung auf seinem Handy.
Der kräftige Wind, der in den letzten zwei Tagen ständig durch die Straßen gefegt war, hatte sich endlich gelegt; stattdessen war ganz Washington jetzt in kalten Nebel gehüllt. Leroy musterte vom Eingang des Wohnblocks aus den düsteren Himmel. Seit seiner Geburt lebte er schon hier. Bei Regen war das Viertel besonders deprimierend. Sicher, in der Sonne sahen der abblätternde Verputz und die aufgesprungenen Gehsteige noch schäbiger aus, aber dann herrschte wenigstens überall Leben. Kinder tobten auf den asphaltierten Spielplätzen; Teenager trafen sich an den Straßenecken, rauchten, tranken und lachten miteinander. Selbst der üble Geruch, der bei Sonnenschein in der Luft hing, war besser als dieser Regen, in dem alles aussah wie ein verblichenes Schwarzweißfoto.
Er schob die Hände in seine Baggyjeans und zog sich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf. Langsam tappte er die Stufen hinunter, wandte sich nach rechts und ging die Straße hinauf. Durch den Nebel konnte er eine einsame Gestalt erkennen, die in einem beängstigend schiefen Türrahmen stand. Als er näher kam, erwachte die Gestalt zum Leben und schlenderte auf ihn zu. »Tek! Was liegt an?«
Leroy hatte sich seinen Spitznamen vor etwas mehr als einem Jahr durch seinen ausgiebigen, wenn auch alles andere als geschickten Gebrauch einer Tec-9-Maschinenpistole verdient. Ohne diese Waffe machte er seither keinen Schritt mehr.
»Nichts Besonderes, Twan. Kommste mit?« Die feuchte Luft schien jedes Geräusch zu verschlucken.
»Klar, Mann. Nicht viel los heute.«
Wortlos gingen sie weiter, bis sie nach knapp zehn Minuten ein kleines weißes Haus erreichten. Sie blieben auf dem Bürgersteig stehen und schauten sich um, ob von irgendwoher Gefahr drohte.
Das Dach des Hauses sah aus, als könne es jeden Moment zusammenbrechen. Die dicken Bretter vor den Fenstern schienen das einzig Solide zu sein, das bei seinem Bau verwendet worden war. Es gab keinen Hof, der diesen Namen verdient hätte, nur nassen Abfall zwischen wucherndem Unkraut. Für Außenstehende wirkte das Haus verlassen. Sie wussten es besser.
Twan blieb am Straßenrand stehen, während Tek lässig zur Haustür schlenderte und den Drang unterdrückte, um sich zu schauen. Er klopfte dreimal, machte eine Pause und pochte dann noch zweimal mit der Handkante gegen die Tür.
»Wer ist da?«, fragte eine gedämpfte Stimme.
»Tek, Mann. Mach schon auf, hier draußen schifft es!«
Die Tür wurde zuerst nur einen Spalt breit, nach einem kurzen Zögern dann aber ganz geöffnet.
»Wer ist das?«
Der Mann, der auf seinen Freund deutete, sah aus wie ein Berg.
»Er gehört zu mir«, erklärte Tek schlicht und versuchte erfolglos, sich an dem Koloss vorbei zu zwängen, um aus dem Regen zu kommen.
»Du kannst rein. Er bleibt draußen.«
Tek winkte seinem Freund rasch zu. Twan erwiderte regungslos seinen Blick durch die dunkle PanoramaSonnenbrille, die im Lauf der Jahre auf seinem Gesicht festgewachsen zu sein schien.
Eine einzige Lampe ohne Schirm, die in der Ecke stand, erhellte das düstere Zimmer, in das durch die bretterverschlagenen Fenster kaum Tageslicht drang. Das Innere des Hauses wurde von einer Wand in zwei Hälften geteilt, wodurch es für Tek von seinem Standort an der Tür aus unmöglich war, in den Nebenraum zu schauen. Möbel gab es anscheinend nirgends, obwohl er sich vorstellte, dass hinter der Mauer ein ganzer Tisch voll mit dem Zeug stand, weswegen er hier war.
Ein großer Mann mit fleckiger Haut erschien aus dem Nebenzimmer. Tek hatte ihn schon zweimal getroffen und kannte ihn nur mit seinem
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