Markus, glaubst du an den lieben Gott? (German Edition)
überraschend. Als die Sendung im Juni ausgestrahlt wird, gehe ich gegenüber meinen abstinenten Freunden in den Widerstand, schieße ihre Empfehlungen in den Wind. Das kostet mich fast mein Leben. Ich muss weitertrinken. Heimliche Rückfälle, über vier Monate verteilt, liegen vor mir.
Nach dem „Promi-Dinner“-Dreh wird mein kleines Aquarium geliefert: Fünf Garnelen, zwei Putzerwelse, fünf Guppys und ein Kampffisch tummeln sich in dem quadratischen Becken. Kuriose Ablenkungsmanöver sind das: kleine Fische großziehen und darauf warten, dass sich die Ruhe im Becken auf mich überträgt. 45 Liter frisches Fischwasser gegen allen Alkohol der Welt eintauschen und dann Däumchen drehen – so funktioniert das nicht. Das lenkt lediglich vom Wesentlichen ab. Auf Partys und bei beruflichen Veranstaltungen schaffe ich es zwar zu sagen: „Danke, für mich ein Wasser. Danke, für mich keinen Alkohol. Danke, nein! Haben sie vielleicht einen Fruchtsaft für mich?“ Kapituliert habe ich aber immer noch nicht. Ich sehne mich nach einem gepflegten Drink oder der nächsten Droge. Kein Wunder, das waren ja auch über viele Jahre hinweg meine Freunde. Sie haben mich getröstet. Ich fühlte mich stark, wenn ich „drauf war“.
Einen Alkoholiker zeichnet vor allem eines aus: Er trinkt irgendwann nur noch auf Wirkung. Und er bekommt niemals genug, wenn er das Endstadium der Krankheit erreicht hat. Dann heißt es, lebenslang trinken: bis zur Klapse, zum Knast oder Grab. Die einzige Alternative ist, das erste Glas stehen zu lassen. Das misslingt mir in dieser Zeit jedoch. Ich leugne meine Krankheit und stürze mich in Arbeit. Und ich begegne J.! Er wird zu meinem Begleiter „an den Tischen“ – so bezeichnen wir unsere Treffen in den Gruppen mit den Menschen, die das gleiche Problem haben wie ich.
Das bittere Ende kommt als Geschenk von Gott: im Angesicht des Abgrunds endlich die ausgestreckten Hände der Freunde greifen zu können. Am vierten August 2008 werde ich in Köln beim Konsumieren von Drogen mit dem Handy fotografiert. Am nächsten Morgen startet jemand über das Internet den Versuch, mich mit den Bildern einzuschüchtern. Ich reagiere nicht. Die Informationen landen daraufhin im E-Mail-Postfach meiner Frau. Die Erde bebt.
Ich vertraue mich J. an und bete mit ihm gemeinsam. Ich schleiche an „die Tische“. Es gelingt mir dieses Mal sitzen zu bleiben. Watte in den Mund und die Ohren aufsperren. Ehrlichkeit. Alles kommt auf den Tisch, und gesoffen wird nicht. Barbara hält zum letzten Mal still. Sie hat kaum noch Kraft. Ich kapituliere. Über viele Monate lang sage ich mir: „Nur die nächsten paar Stunden durchhalten.“ Dann mit J. telefonieren oder ins Meeting. Sind die Stunden vorüber, sage ich mir wieder: „Nur die nächsten Stunden!“
Heute bin ich frei von der schlimmen Unruhe der aktiven Sucht. Und immer noch gilt: „Nur für heute.“ Die Zeitspanne ist deutlich länger geworden, die Gefahr leider nicht kleiner. Dann wird es milder mit mir. Ich denke plötzlich nicht mehr an den Stoff. Eine nicht zu unterschätzende Geduldsübung hat sich gelohnt. Ich nehme tatsächlich nichts mehr zu mir, was mein Bewusstsein trüben oder verändern könnte. Das hat sich erledigt. Die Welt wirkt etwas fremd auf mich. Leicht ist es nicht, anderen beim unverfänglichen Genießen zuzuschauen. Nachts schrecke ich oft auf: „Wie konnte es überhaupt so weit mit mir kommen?“ Ich bin das schon immer gewesen, süchtig nach Fülle, in jeder Beziehung: essen, trinken, Liebe und spielen. Gott sei Dank ist bei mir mit „spielen“ nur das Schauspielen gemeint. Es gibt einen Spruch, den ich allerdings erst etwas verspätet verstehe: „Wen der liebe Gott liebt, den macht er zum Alkoholiker!“ Seltsam.
Ich sitze nun seit einigen Jahren in meiner Selbsthilfegemeinschaft. Sie ist weder eine Sekte noch ein Teil einer Kirche und unabhängig von Politik. Hier kommen süchtige Menschen zusammen, die den Wunsch haben, Drogen aus ihrem Leben fernzuhalten. Ich weiß – und alle anderen an „den Tischen“ auch –, dass ich nicht allein bin mit dieser Krankheit, aber auch, dass sie nicht heilbar ist. Ich kann ihr Fortschreiten verhindern, indem ich immer wieder meine Gruppen aufsuche. Die Menschen in diesen Gruppen stellen ihre eigenen Erfahrungen für andere zur Verfügung, indem sie die Botschaft „Genesung ist möglich“ selbst vorleben, durch das Weitererzählen ihrer eigenen Erlebnisse und nicht durch die Vorgabe von
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