Marlene Suson 1
dich anständig bei Mi- stress Hextable für ihre Großzügigkeit, du undankbares Frauen- zimmer.‚
Das Jammern von drinnen wurde lauter, und eine zweite piep- sige Kinderstimme fiel ein. Die Frau warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück, kam dann jedoch gehorsam heraus und auf die Kutsche zu.
„Nicht näher!‚ rief Emily erschrocken, als die Frau noch mehrere Schritte entfernt war. „Sie können mir von dort aus danken.‚
Rachel zuckte zurück. Sie schämte sich für Emily.
Die Frau blieb stehen und knickste. „Vielen Dank, Mistress Hextable‚, sagte sie tonlos. „Sie sind sehr großzügig.‚
Emily nickte gnädig, und damit war die Frau entlassen. Be- strebt, zu ihren Kindern zurückzukommen, drehte sie sich um und rannte ins Haus zurück.
Der Lakai stieg wieder auf die Kutsche, die sofort losfuhr.
Sie waren eine Weile gefahren, als Rachel einen kleinen, mage- ren Jungen in einem groben Hemd und bloßen Füßen erblickte, der am Straßenrand Beeren pflückte.
Als Emily ihn erspähte, rief sie empört: „Dieses gräßliche Kind stiehlt Ihre Beeren!‚
Sie befahl dem Kutscher, sofort anzuhalten. Während die Kut- sche zum Stehen kam, fauchte sie: „Das ist eins der Bälger von diesem gottlosen Taggart. Aber was will man auch anderes er- warten? Wie der Vater, so die Kinder.‚
Der Junge befand sich auf der Seite der Kutsche, wo Rachel saß. Emily reckte sich an ihr vorbei und steckte den Kopf aus dem offenen Fenster. „Billy Taggart!‚ keifte sie das Kind an. „Wie kommst du dazu, diese Beeren zu pflücken?‚
Der Junge wandte den Kopf. Er konnte kaum älter als sechs Jahre sein. „Sin’ für meine Schwester. Maggie’s krank un’ will was Süßes.‚
„Du darfst sie nicht pflücken‚, ereiferte sich Emily. „Sie ge- hören nicht dir. Das ist Diebstahl.‚
Ein trotziger Ausdruck flog über das schmale kleine Gesicht. „Sons’ verfaul’n se ja doch.‚
„Ja, da hast du recht‚, mischte sich Rachel ein. „Du kannst die Beeren ruhig pflücken, Billy.‚
„Sie können ihn doch nicht dafür belohnen, daß er Sie be- stiehlt!‚ Emily war ganz außer sich.
„Ich habe es ihm ja erlaubt. Dann ist es ja kein Diebstahl.‚
Emily ließ sich auf den Sitz zurücksinken, murmelte beleidigt etwas vor sich hin, und die Kutsche fuhr weiter.
Die ,vielen Besuche’, die Emily machen mußte, waren dann insgesamt drei. Der letzte führte sie zu einer Hütte, die in einem elenden Zustand war. Wieder blieben Emily und Rachel in der Kutsche sitzen, während Mrs. Quigg, eine hagere, früh gealterte Frau heraustrat. An ihren abgetragenen Röcken hingen sieben zerlumpte Kinder. Das älteste mochte etwa neun sein. In den Ar- men hielt sie einen mageren Säugling.
„Sind das Pächter von Royal Elms?‚ fragte Rachel betroffen, als sie die ausgemergelten Gesichter und spindeldürren Kör- per sah. Die Familie wirkte halb verhungert. Da Rachel wußte, wie sehr Jerome sich um seine Pächter kümmerte, konnte sie es nicht fassen, daß diese Menschen in einem solchen Zustand waren.
„Nein, sie gehören zu Stanmore Acres.‚
Die Augen der Kinder hefteten sich hungrig auf den winzi- gen Korb, den der Lakai ihrer Mutter gab. Rachel war sicher, daß der Inhalt nicht einmal für eine halb so große Familie ge- reicht hätte.
Die einstudiert wirkende Art, wie Mrs. Quigg und ihre Kinder sich aufstellten und vor Emily knicksten, verriet Rachel, daß dies ein altbekanntes Ritual für sie war.
Ihre Stimmen dankten für den Großmut Mistress Hextables, doch ihre Augen blickten finster und feindselig. Rachel konnte ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Es war ungeheuerlich, diese Menschen für ein paar Brosamen so zu demütigen.
Nachdem Emily Rachel wieder nach Royal Elms gebracht hatte, schickte Rachel sofort nach Ferris, um mit ihm auszureiten. Dann lief sie hinauf in ihr Zimmer, um ihr schlichtes braunes Reitkleid anzuziehen und ihre Ledertasche zu holen.
Es war schon Spätnachmittag, und sie würde heute nur noch Zeit für einen Besuch haben. Die fiebernden Kinder standen zu- oberst auf ihrer Liste.
„Wo willst du hin?‚ fragte Jerome am folgenden Tag, als er Ra- chel in ihrem braunen Reitkleid sah. Sie hatte ihre Ledertasche bei sich.
„Einen kranken Pächter besuchen.‚
„Mit Emily?‚ fragteer. Emilys Mildtätigkeit war der wichtigste, wenn nicht gar einzige Grund, aus dem Jerome Emily all die Jahre so geschätzt hatte. Er hatte sich immer eine Frau gewünscht, die sich selbstlos um
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