Marlene Suson 1
sie sich vom Tisch erhoben, sagte Rachel: „Ich habe übri- gens deine Gitarre entdeckt. Willst du nicht ein bißchen für mich spielen?‚
Es wartete zwar noch Arbeit auf ihn, doch er schob den Gedan- ken beiseite. Er nahm die Gitarre und ließ sich im Erker nieder. Rachel setzte sich neben ihn.
Als erstes spielte er eine Ballade. Nach ein paar Takten begann Rachel den Text mitzusingen, und er fiel ein. Es freute ihn, wie gut ihre Stimmen zusammenklangen.
Sie kannte die meisten Lieder, die er spielte, sogar einige, bei denen er die Brauen hob. Sie erklärte ihm, daß sie sie von ihren Brüdern gelernt hatte.
Die Zeit verging wie im Flug. Es war schon ewig lange her, daß Jerome einen so schönen Abend auf Royal Elms verbracht hatte. Er hätte ihn noch endlos ausdehnen können, wenn . . . ja, wenn der Gedanke, die Nacht mit Rachel zu verbringen, nicht minde- stens ebenso verlockend gewesen wäre.
Die Vorfreude zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hätte sich keine liebevollere und leidenschaftlichere Frau wünschen können. Doch plötzlich begann der Zweifel wieder an ihm zu nagen. Es war ganz einfach unrealistisch zu hoffen, daß eine so hinreißende Frau sich mit nur einem Mann begnügen würde.
Auf Royal Elms mochte sich das Problem vielleicht nicht stel- len, doch wenn er sie erst einmal nach London brachte, würde ihre Schönheit alle Salonlöwen auf den Plan rufen. Sie würde nicht imstande sein, ihren Nachstellungen auf die Dauer zu wi- derstehen.
Die beste Lösung wäre vermutlich, sie gar nicht nach London zu bringen. Hier war sie sicher.
Zumindest vor den Anfechtungen des Fleisches. Jerome preßte die Lippen zusammen, als er an den Unbekannten dachte, der Rachel nach dem Leben trachtete. Er hatte große Angst, daß es vielleicht ihr Bruder George war. Wer sonst konnte von ihrem Tod profitieren.
Nachdem Ferris ihm von dem Mann im Wirtshaus erzählt hatte, hatte er sofort eine Botschaft an Morgan geschickt und ihn drin- gend gebeten, nach Royal Elms zurückzukommen.
Jerome hoffte inständig, daß er, sein Bruder und Ferris in der Lage sein würden, Rachel wirksam vor dem Phantom zu schüt- zen, das sie bedrohte.
24. KAPITEL
„Emily Hextable ist gekommen, um dir einen Besuch zu machen‚, sagte Jerome am nächsten Morgen. „Ich werde euch miteinander bekannt machen. Sie ist eine wunderbare Frau.‚
Rachel fragte sich, wieso Emily so früh am Morgen vorsprach. Sie folgte ihrem Mann hinunter in den Salon, um die ,wunderbare Frau’ kennenzulernen, die Jerome ihretwegen nicht hatte heira- ten können.
Sie war es allmählich leid, mitanhören zu müssen, wie wun- derbar Emily war. Rachels erste Besucher auf Royal Elms waren der dicke Pfarrer und seine selbstgefällige, nicht minder dicke Frau gewesen. Beide hatten Emilys Tugenden in so hohen Tönen gepriesen, daß ihr die Zähne weh getan hatten.
„Ich weiß gar nicht, was die Armen und Kranken in unserer Gemeinde ohne Mistress Hextable tun sollten‚, hatte der Pfarrer gesagt. „In unseren Zeiten findet man selten eine Frau, die sich so selbstlos für andere einsetzt.‚
Jerome führte Rachel in den Salon, wo Emily sie erwartete. Sie war eine große, magere Frau, vielleicht ein halbes Dutzend Jahre älter als Rachel. Ihr schmales Gesicht war weder hübsch noch häßlich, doch nichtssagend und unauffällig. Ihre grauen Augen waren glanzlos, ihr war Mund schmallippig und verkniffen, außer wenn sie Jerome ansah.
Und das tat sie fast unentwegt. Selbst als er sie seiner Frau vorstellte, gönnte sie Rachel nur einen flüchtigen Blick.
„Mein Gatte erzählte mir, daß Sie Ihr Leben damit verbringen, anderen zu helfen‚, sagte Rachel höflich.
„Ja‚, bestätigte Emily, ohne den Blick von Jerome zu wenden. „Ich tue stets meine Christenpflicht.‚
„Emily ist unermüdlich‚, bekräftigte Jerome, und in seiner Stimme lag aufrichtige Bewunderung.
Emily ließ einen gezierten Seufzer hören. „Ich muß ja unermüd- lich sein, denn die armen Menschen sind so abhängig von mir. Sie
sagen immer, sie wüßten gar nicht, was sie ohne mich tun sollten. Und das ist es, was mich anspornt.‚ Sie bedachte Jerome mit einem Lächeln, das Rachel – die zugegebenermaßen nicht ganz vorurteilsfrei war –, eher berechnend als aufrichtig fand. „Ihre Dankbarkeit ist so rührend. Die Kranken versichern mir immer wieder, wie sehr meine Besuche sie trösten. Ich bin ja auch die einzige, die sich zu ihnen wagt. Niemand sonst traut sich in ihre
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