Marlene Suson 1
den Armen und tröstete es mit so zärtlicher Stimme, daß Rachel die Kehle eng wurde. „Wo ist denn Mrs. Taggart?‚
„Gestor’m‚, sagte er gepreßt. „Bei der Geburt von dies’m Klei’m hier. Bin jetzt Pa und Ma für die Kinder.‚
Erstaunt blickte Rachel sich in dem sauberen kleinen Haus um. „Wie schaffen Sie das alles nur?‚
Ein grimmiger Ausdruck trat in sein Gesicht. „Is’ nich’ einfach. Maggie kümmert sich um die Klein’n, wenn ich aufm Feld bin. Aber jetzt, wo sie so krank ist ...‚ Seine Stimme erstarb. Man spürte, daß er am Rande der Verzweiflung war.
Er hatte Rachels uneingeschränktes Mitgefühl. Wie konnte Emily diesen Mann nur als ,faulen Flegel’bezeichnen?
Als Rachel nach Royal Elms zurückkehrte, zog sie sich um und war gerade auf dem Weg zur Vorratskammer, als sie Morgans Stimme in der großen Halle hörte.
Sofort lief sie hin, um ihn zu begrüßen. Er war von oben bis unten mit Staub bedeckt. „Du siehst aus, als hättest du seit dem Morgengrauen im Sattel gesessen.‚
Morgan nickte. „Habe ich auch. Jerome hat mich dringend her- beordert, hat mir aber nicht verraten, weshalb.‚
„Davon hat er mir gar nichts gesagt‚, gab Rachel stirnrunzelnd zurück. „Allerdings hat er, glaube ich, auch nicht erwartet, daß du so lange in London bleiben würdest.‚
„Ich wollte euch beiden ein bißchen Zeit lassen, damit ihr euch aneinander gewöhnen könnt.‚ Er zog sie in einen kleinen Salon. „Nun, wie bekommt euch der Ehestand?‚
Rachel ließ den Kopf hängen. „Ich fürchte, ich kann es in Je- romes Augen nicht mit Emily Hextable aufnehmen.‚
Morgan zog eine angewiderte Grimasse. „Jerome hat Sankt
Emily nie so gesehen, wie sie wirklich ist. Wie sollte er auch? Er hat ja nur ihr Wort – genau genommen hunderttausende davon – dafür, wie wunderbar sie ist.‚
„Wenn ich es richtig sehe, stehe ich tief in deiner Schuld.‚ Ra- chel versuchte den Kloß hinunterzuschlucken, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte.
„Wofür?‚
„Dafür, wie du Jerome dazu gebracht hast, mich zu heiraten. Du hast dafür dein Leben als Straßenräuber aufgegeben.‚
„Da soll mich doch ... Er hat doch nicht etwa behauptet, daß er dich deshalb geheiratet hat?‚
„Er hat gesagt, daß er dich damit dazu gebracht hat, Gentleman Jack für immer zu begraben.‚
„Aber es ist nicht der Grund, weshalb er dich geheiratet hat. Er hat mein Angebot nämlich abgelehnt! Nur als er sich dann doch zur Ehe entschlossen hatte, hat er mich natürlich an mein Versprechen erinnert und darauf gepocht, daß ich es einlöse. Ich habe dir schon einmal gesagt, er hat dich geheiratet, weil ihm klargeworden ist, wieviel du ihm bedeutest.‚
Rachel hätte ihrem Schwager so gern geglaubt, aber durfte sie es wagen? Neugierig sah sie ihn an. „Weshalb bist du eigentlich Straßenräuber geworden?‚
„Zum einen aus Abenteuerlust. Ich wollte etwas gegen die Un- gerechtigkeit tun, und ich habe mich gelangweilt.‚
„Wirst du es vermissen?‚
„Nein.‚ Morgan grinste ein wenig verlegen. „Ich finde den Gedanken, erschossen oder gehenkt zu werden, nicht besonders anziehend.‚ Er zögerte und sagte dann freimütig: „Schon vorher war ich zu der Überzeugung gekommen, daß es im Grunde ja doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, wenn ich die Rei- chen beraube, um ein paar Armen zu helfen. Jerome bewirkt viel mehr, indem er all die Leute hier auf Royal Elms beschäftigt, die er eigentlich gar nicht braucht.‚
„Ich finde, ihr seid euch sehr ähnlich, du und dein Bru- der.‚
„Mag sein‚, räumte Morgan ein. „Jerome hat immer wieder versucht, mich davon zu überzeugen, daß ich innerhalb der ge- setzlichen Grenzen viel mehr tun könnte, um den Armen und Unterdrückten zu helfen. Irgendwann habe ich eingesehen, daß mein Tod niemandem helfen würde, und daß es an der Zeit war, etwas anderes zu versuchen.‚
Rachel lächelte. „Und was wird das sein?‚
„Ich bin noch nicht sicher. Vielleicht werde ich mich dafür ein- setzen, das Armenrecht zu verbessern. Vielleicht werde ich auch einen Modellversuch starten, bei dem die Armen nicht nur aus Mildtätigkeit versorgt werden, sondern ihr Geld in Würde selbst verdienen können.‚
„Ich hoffe, daß du auf Royal Elms bleibst, bis du einen Ent- schluß gefaßt hast.‚
„Hier gibt es ja nichts für mich zu tun.‚
„O doch, jede Menge. Der Verwalter ist immer noch krank, und Jerome ist völlig überlastet.‚
„Aber er
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