Marlene Suson 1
Nähe.‚
„Du bist wirklich sehr tapfer‚, sagte Jerome.
Emily lächelte selbstgefällig. „Ich könnte auch gar nicht an- ders sein‚, versicherte sie. „Aber ich kümmere mich auch um die Hungernden. Die arme Mrs. Quigg sagt mir fast jeden Tag, daß sie und ihre Kinder Hungers sterben müßten, wenn sie mich nicht hätten. Es ist so traurig, Jerome. Ich könnte weinen, wenn ich sehe, in welchem Zustand sie sind.‚
Sie betupfte sich geziert die Augen, in denen Rachel allerdings nicht die Spur einer Träne entdecken konnte, obwohl sie sehr genau hinsah.
„Ich muß mich entschuldigen, daß ich zu so früher Stunde hier eindringe‚, sagte Emily und schaute noch immer Jerome an. „Aber ich habe heute so viele Besuche zu machen, einige davon bei dei- nen Pächtern. Deshalb würde ich gern deine Gattin mitnehmen, falls sie einverstanden ist.‚
Rachel war sicher, daß nur eine andere Frau den subtilen Un- terton in Emilys Stimme hören konnte. Mistress Hextable ging offenbar davon aus, daß Jeromes neue Herzogin kein Verlangen nach solchen, von ihr bewußt in so düsteren Farben geschilder- ten Besuchen haben würde. Diese Genugtuung würde Rachel ihr nicht geben. „Ich begleite Sie sehr gern‚, schwindelte sie. Emi- lys verdrießlicher Gesichtsausdruck bei Rachels Antwort war es wert, sich der unwillkommenen Gesellschaft dieser Frau zu un- terziehen.
„Wie ich höre, ist das älteste Kind von Bill Taggart drüben in Stanmore Acres krank‚, sagte Jerome zu Emily. „Vielleicht könntest du dort auch vorbeischauen.‚
„Dieser gottlose Mann!‚ entrüstete sich Emily. „Keinen Fuß setze ich in sein Haus. Er ist ein Gotteslästerer und ein undank- barer, fauler Flegel.‚
„Ein fauler Flegel?‚ wiederholte Jerome stirnrunzelnd. „Das überrascht mich. Lord Stanton pflegte immer zu sagen, er wünschte, er hätte mehr Pächter wie diesen Taggart.‚
Emily schnüffelte verächtlich. „Das hat sich geändert. Du müß- test mal sehen, wie nachlässig dieser schreckliche Mensch gewor- den ist.‚
„Ich bedaure sehr, das zu hören‚, sagte Jerome. Rachel über- legte, daß dies wohl ein weiteres Problem war, um das Jerome sich würde kümmern müssen. Er war ja nun der Besitzer von Stanmore Acres.
Als Jerome ging, folgte Emilys Blick ihm, bis er das Zimmer, verlassen hatte. Jerome mochte zwar eine andere Frau geheiratet haben, doch es war nicht zu übersehen, daß Emily ihn noch immer wollte.
Während Emilys Kutsche über die saftigen grünen Hügel fuhr, versuchte Rachel ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Doch Emily hatte recht wenig zu sagen, wenn Jerome nicht in der Nähe war. Man merkte ihr an, daß sie sich in Rachels Gesellschaft nicht sonderlich wohl fühlte.
Rachels Gedanken wanderten zu Jerome. Seine beständigen Lobpreisungen der ,wunderbaren Emily’ gingen ihr auf die Ner- ven. Würde sie in seinen Augen je an diese Heilige heranreichen?
Als sie gestern abend nach dem Dinner in dem neuen Eßzimmer hinaufgegangen waren, hatte er sie an ihrer Tür vorbeigeführt und mit in sein Schlafgemach genommen. Dort hatte er sie mit solcher Zärtlichkeit geliebt, daß ihre Hoffnung wieder gestiegen war. Obwohl er sie nur geheiratet hatte, um seinen Bruder vor dem Galgen zu retten, würde es ihr vielleicht doch noch gelingen, sein Herz zu erobern.
Emily erklärte Rachel, daß ihr erster Besuch sie zu einer Päch- terfamilie von Royal Elms führen würde. Dort wollte sie Trost spenden, weil vier der fünf kleinen Kinder das Fieber hatten und sehr krank waren.
Als die Kutsche vor einem sauberen, adretten Haus hielt, sprang einer der beiden Lakaien, die hinten auf der Kutsche mitfuhren, ab. Mit einem kleinen Korb am Arm ging er zur Tür. Rachel wollte die Kutschentür öffnen, doch Emily legte ihr die Hand auf den Arm. „Wir steigen nicht aus.‚
„Wie sollen wir dann einen Besuch machen?‚
„Wir können nicht ins Haus gehen‚, sagte Emily furchtsam. „Die Kinder sind krank. Es könnte ansteckend sein.‚
„Ich begreife nicht ganz, wie wir sie von der Kutsche aus trö- sten sollen‚, wandte Rachel mit scharfer Stimme ein.
„Wir lassen ihnen Essen hier.‚
Eine offensichtlich erschöpfte und sorgengeplagte Frau öffnete die Tür, und der Lakai reichte ihr den kleinen Korb. Ein lautes, klägliches Jammern drang aus dem Innern des Hauses. Die Frau senkte dankend den Kopf und wollte die Tür wieder schließen, doch der Lakai hinderte sie daran.
„Komm gefälligst heraus und bedank
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