Marlene Suson 1
gebeugter Mann kam heraus, um sie zu begrüßen. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sein langes, hageres Gesicht erinnerte an einen traurigen Spaniel.
„David, ich nehme an, Sie wissen, weshalb ich gekommen bin‚, sagte Jerome.
Rachel bedauerte, daß in seiner Stimme jetzt nichts mehr von dem Mitgefühl und Verständnis zu hören war, das Jerome ihr gegenüber eben noch zum Ausdruck gebracht hatte.
David nickte niedergeschlagen. „Ich kann die Rückstände si- cher noch aufholen, wenn die Ernte gut ist.‚
„Aber Sie wissen doch, daß das aussichtslos ist. Sie haben nicht genug gepflanzt, und Vorräte haben Sie auch nicht. Alles ist in einem so schlechten Zustand, daß es so nicht weitergehen kann.‚
Jerome gab sich jetzt wieder so steif und unnahbar, daß er fast unsympathisch wirkte. Doch Rachel wußte es ja besser. Er schlug nur deshalb diesen Ton an, weil er das, was er jetzt tun mußte, zutiefst verabscheute. Trotzdem mußte David den Eindruck ha- ben, daß er und seine Nöte dem Herzog völlig gleichgültig waren.
„Ich muß die Farm wieder selbst übernehmen‚, sagte Jerome streng.
Die Verzweiflung in Davids Augen war so groß, daß es Rachel ins Herz schnitt.
„Was sollen meine Familie und ich dann machen, Euer Gna- den?‚ fragte der Mann bitter. „Wo sollen wir hin?‚
Die Frage schien Jerome zu überraschen. „Wieso? Nirgendwo- hin. Sie bleiben hier und bewirtschaften den Hof für mich. Ich zahle Ihnen einen entsprechenden Lohn.‚
Für diesen weisen Entschluß wäre Rachel ihrem Mann am lieb- sten um den Hals gefallen.
Völlig verdattert starrte David den Herzog an. Wenn Jerome auch nur ein bißchen entgegenkommender gewirkt hätte, dann wäre der Mann vor Erleichterung und Dankbarkeit sicher ganz aus dem Häuschen gewesen. Doch die steife Haltung ihres her- zoglichen Gemahls verhinderte das.
Als Rachel und Jerome weiterritten, sagte er: „Wenn David für mich arbeitet, nehme ich ihm die Verantwortung ab. Ich werde
seine Vorräte wieder auffüllen und die Gebäude instandsetzen lassen. Und ich werde dafür sorgen, daß er im nächsten Frühjahr genug Saatgut und Dünger hat.‚
Rachel strahlte ihn an. „Das war die perfekte Lösung.‚ Sie wußte, daß er sich trotz seiner äußerlichen Reserviertheit ernst- haft um seine Leute sorgte. Sie spürte genau, daß er sich eigent- lich gar nicht so geben wollte, doch er konnte einfach nicht aus seiner Haut. Wirklich locker war er nur bei wenigen Menschen, wie beispielsweise Ferris.
Rachel nahm sich fest vor, das zu ändern.
Jerome saß im Arbeitszimmer über den Büchern, doch seine Ge- danken kehrten immer wieder zu Rachels strahlendem Lächeln zurück, mit dem sie ihn für die Lösung von Davids Problemen belohnt hatte. Über dieses bedingungslose stumme Lob von ihr hatte er sich stolz wie ein Spanier gefühlt.
Aufrichtige Komplimente waren selten gewesen in Jeromes Le- ben. Sein Vater hatte ihn niemals gelobt. Und falsche Kompli- mente durchschaute Jerome sofort, und sie waren ihm verhaßt.
Rachels Lob war echt und ehrlich gewesen, wie auch ihr Inter- esse an Royal Elms.
Jerome hatte es genossen, diesen Tag mit Rachel zu verbringen, ihr bezauberndes Gesicht zu sehen und ihre warme, melodische Stimme zu hören.
Er wußte, daß er sich nicht länger von ihr fernhalten konnte. Er wollte es auch nicht mehr. Langsam, aber sicher baute sie die Barriere ab, die er um sein Herz errichtet hatte.
Und das machte ihm höllische Angst.
Was empfand Rachel wirklich für ihn? Die Entführung war ein verzweifelter Versuch gewesen, einer Ehe mit Lord Felix zu ent- rinnen. Da war er, Jerome, ihr gerade recht gekommen. Außerdem war er reich und von Adel und somit ein Mann, gegen den auch ihre Tante nichts einwenden konnte.
Jerome konnte Rachels Leidenschaft wecken, aber hatte er auch Zugang zu ihrem Herzen gefunden? Noch nie war ihr ein Wort der Liebe über die Lippen gekommen. Noch kein einziges Mal hatte sie gesagt, daß er ihr etwas bedeutete, nicht einmal, wenn sie sich liebten.
Zumindest war sie keine Lügnerin. Vielleicht mußte er schon dafür dankbar sein. Mit einem verächtlichen Kräuseln der Lip- pen erinnerte er sich an Cleos falsche Liebeserklärungen.
Jeromes Gedanken wurden von Ferris unterbrochen, der plötz- lich in der Tür stand. „Was ist los?‚ fragte Jerome alarmiert, denn er wußte, daß Ferris ihn hier im Arbeitszimmer nur aus einem wichtigen Anlaß stören würde.
„Gestern abend war ein Fremder in der
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