Marlene Suson 2
wie enttäuscht sie von ihrer neuen Herrin waren.
Konnte man sie dafür tadeln? Ihre eigenen Livreen waren um einiges eleganter als Megs schäbiges Reisekleid. Und ne- ben Rachels atemberaubender Schönheit fiel sie natürlich ganz besonders ab.
Nach dem Essen führte Stephen Meg hinauf in die Privaträume des Earls.
Und nun ging er mit am Hals offenstehendem Hemd und auf- gerollten Ärmeln im Zimmer hin und her, strich liebevoll über die Möbel und nahm hier und dort einen Gegenstand in die Hand, als müßte er sich davon überzeugen, wirklich wieder zu Haus zu sein.
Er lächelte seiner Frau zu. „Nun, mein Schatz, wie findest du dein neues Heim?“
Megs Blick glitt über die kostbaren französischen Möbel und die eleganten Draperien an den Fenstern und dem Himmelbett. Ihr Blick verhielt bei einem großen Portrait an der Wand. Es zeigte eine Frau, nicht so auffallend schön wie Rachel, aber doch mit einem sehr ebenmäßigen, anziehenden Gesicht. Es gab Meg einen eifersüchtigen Stich, und sie fragte sich, wer die Frau wohl sein mochte und weshalb ihr Portrait in Stephens Schlafzimmer hing.
Sie schaute zu ihm hinüber und merkte, daß er gespannt auf ihre Antwort wartete. Er wirkte so aufgeregt und begeistert, daß sie lächeln mußte. Ganz offensichtlich war er auf sein Zuhause ebenso stolz, wie sie es früher auf Ashley Grove gewesen war, und das mit gutem Grund. „Wingate Hall ist sehr beeindruckend.“
Das war es wirklich.
Am besten gefiel Meg, daß das Haus trotz seines Alters – ein Flügel stammte noch aus Tudorzeiten – und der auffallenden Größe eine behagliche, anheimelnde Atmosphäre hatte. Das sagte sie Stephen auch.
Man sah ihm an, wie sehr es ihn freute. „Das haben wir meiner Mutter zu verdanken. Mein Vater hat immer gesagt, daß erst sie Wingate Hall zu einem wirklichen Heim gemacht hat. Du hättest sie gemocht. Du erinnerst mich übrigens in vielen Dingen an sie.“ Er nickte in Richtung des Portraits, das Meg eben aufgefallen war. „Das ist meine Mutter.“
Meg atmete auf, als sie hörte, daß es ein Bild seiner verstor- benen Mutter war. Doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie diese anziehende Frau mit den edlen Zügen Stephen an seine schlichte, reizlose Ehefrau erinnern konnte.
„Mein Vater hat dieses Gemälde sehr geliebt. Nachdem meine Mutter gestorben war, ließ er es hier aufhängen, damit er sie gleich morgens beim Erwachen sehen konnte.“
Wieder schaute Meg sich in dem geschmackvollen Schlafzim- mer um. Stephen hatte ja gesagt, daß er ein sehr wohlhabender Mann war, doch sie hatte es ihm nicht ganz abgenommen. Sie hatte immer geglaubt, daß er ein bißchen übertrieb, sowohl, was die Größe seines Vermögens betraf, als auch seine Stellung in der Gesellschaft. Jetzt jedoch mußte sie feststellen, daß er ganz im Gegenteil tiefgestapelt hatte. „Warum hast du mir nicht gesagt, was ,Earl Arlington’ bedeutet?“
„Ich wollte dich überraschen.“
Seine strahlenden Augen verrieten Meg, was er von ihr er- wartete: Daß sie über die Entdeckung, plötzlich eine Gräfin zu sein, ganz aus dem Häuschen sein müßte. Doch nach all den Geschichten über die Lasterhaftigkeit des englischen Adels und seiner laxen Einstellung zur Ehe legte sie keinen Wert darauf, diesem illustren Stand anzugehören.
In England heiratet man nicht aus Liebe, und es ist gang und gäbe, daß ein Mann sich eine Mätresse nimmt.
Nun, sie war da ganz anderer Meinung. Für sie war die Liebe der einzige Grund für eine Eheschließung.
Und – Earl oder nicht – sie liebte Stephen Wingate, obwohl sie jetzt verstand, weshalb er ihre Liebe nicht erwidern und ihr auch nicht treu sein konnte.
Das Herz wurde ihr schwer wie Blei. Was sollte sie nun tun?
„Im übrigen“, fuhr Stephen fort, „habe ich befürchtet, daß du mich für einen Aufschneider hältst, wenn ich dir sage, daß ich ein englischer Lord bin. Hättest du nicht genau das getan?“
„Höchstwahrscheinlich“, bekannte sie ehrlich. Wenn sie schon bezweifelt hatte, daß er Stephen Wingate, ein begüterter Farmer, war, dann hätte sie ihm den Earl erst recht nicht abgenommen.
Stephen kam zu Meg und legte ihr zärtlich die Hände auf die Arme. „Jerome hat freundlicherweise angeboten, eines seiner Schiffe sofort nach Virginia zu schicken, um Josh herüberzuho- len. Dann bist du noch früher mit ihm vereint, als du erwartet hast. Ich werde meinen früheren Hauslehrer Reynolds bitten, an Bord des Seglers zu
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