Marlene Suson 2
habe das Gut nur bis zu deiner Rückkehr ver- waltet. Wie’s der Zufall will, ist Walter Norbury, dein Londoner Anwalt, gerade hier und kann dir gleich morgen die Bücher vorlegen. Er wird entzückt sein, dich wiederzusehen.“
„Ich brauche keinen Rechenschaftsbericht.“ Stephen wußte, daß der Herzog nicht nur ein äußerst fähiger Landwirt, sondern auch ein absolut integrer Mann war. „Ich dachte, du hättest Wingate Hall gekauft. Ich dachte auch, man hätte mich für tot erklärt ...“
„Wohl kaum“, fiel Jerome ihm ins Wort. „Weder Rachel noch George hätten das zugelassen. Sie waren beide fest davon überzeugt, daß du noch am Leben bist.“
„George auch?“ Himmel, konnte es sein, daß sein schrecklicher Verdacht bezüglich seines Bruders falsch war?
„Ja, natürlich“, bestätigte Rachel. „George und ich haben die Hoffnung, daß du noch lebst, niemals aufgegeben. Wir haben uns einfach geweigert, an deinen Tod zu glauben, solange es keinen unwiderlegbaren Beweis dafür gab. Dazu haben wir beide dich viel zu lieb.“
War es möglich, daß George doch nicht sein unbekannter Feind war? Stephen war plötzlich so aufgeregt, daß er nicht mehr still- sitzen konnte. Er sprang auf und ging ruhelos im Zimmer auf und ab.
„Aber ich habe George doch nach New York geschrieben und ihn gebeten, mir zu helfen“, sagte er mit rauher Stimme. „Doch ich habe keine Antwort bekommen.“ Statt dessen war Silas Reif erschienen.
„George war auf einem Einsatz in Kanada“, sagte Rachel. „Erst gestern kam wieder ein Brief von ihm. Er schrieb, daß er nun endlich nach New York zurückkehren würde, nachdem er zwei Monate fort war. Dein Brief muß ihn verfehlt haben.“
Demnach war George definitiv nicht der Feind, der im ver- borgenen lauerte! Eine Welle der Erleichterung erfaßte Stephen, weil der Bruder, den er doch liebte, nicht für all das verantwort- lich war, was er durchmachen mußte. Stephen war so bewegt, daß seine Beine ihn kaum noch trugen.
„Du weißt immer noch nicht, was wirklich geschehen ist, oder?“ fragte Jerome ruhig.
„Ich weiß, daß ich einen Feind habe, der mich an eine Preßpa- trouille ausgeliefert hat. Ich dachte, es wäre ...“ Stephen stockte. Er war nicht fähig, das schreckliche Unrecht in Worte zu fassen, das er seinem Bruder angetan hatte.
„. . . George“, vollendete Jerome für ihn.
Rachel schnappte entsetzt nach Luft, doch Jerome fuhr fort: „Das überrascht mich nicht. Ich habe zuerst ebenfalls gedacht, daß George hinter dem Überfall in Dover steckt.“
„George hätte niemals etwas so ...“
„Das habe ich auch sofort begriffen, nachdem ich ihn kennen- gelernt hatte“, fiel Jerome seiner Frau ins Wort.
Stephens Kopf schwirrte vor offenen Fragen. „Und heute nachmittag im Wirtshaus sagte man mir, daß Rachel tot sei.“
„Das mußt du falsch verstanden haben“, meinte seine Schwe- ster.
„Aber die Männer dort haben sich darüber beschwert, daß ich nach Frankreich gefahren bin und dir die Leitung des Gu- tes überlassen habe. Sie sagten auch, daß du dich dann später umgebracht hättest.“
„Sie haben nicht von Rachel gesprochen“, mischte Jerome sich ein. „Sie sprachen von Sophia Wingate.“
„Sophia Wingate?“ Stephen war so verdutzt, daß er sich wie- der auf das Sofa neben Megan fallen ließ. „Onkel Alfreds Frau?“ Seiner Stimme merkte man an, daß er nichts begriff.
Jerome nickte.
„Aber dieser Schlampe hätte ich doch im Leben nicht die Lei- tung von Wingate Hall übertragen!“ Allein der Gedanke war ein Unding. „Schon damit, daß er sie geheiratet hat, hat Alfred doch bewiesen, was für ein Trottel er ist.“
„Es war Sophia, die veranlaßt hat, daß man dich in Dover überfällt und auf die Sea Falcon preßt.“
„Was?“ Nicht in seinen wildesten Vorstellungen wäre Stephen darauf gekommen, daß diese Frau hinter seiner Entführung stecken könnte. „Herr, du meine Güte, warum sollte sie so etwas tun?“
„Um die Kontrolle über Wingate Hall zu bekommen.“
„Aber das war doch ganz ausgeschlossen.“
„Da irrst du dich“, widersprach Jerome. „Genau das hat sie nämlich getan. Sie hat ein Dokument gefälscht, dem zufolge Rachel die Leitung des Gutes abgenommen und auf Alfred über- tragen wurde. Gleichzeitig wurde Alfred zu Rachels Vormund bestellt. Da der arme Wicht Wachs in Sophias Händen war, hat sie auf Wingate Hall regiert und das Gut fast in den Ruin gewirtschaftet.“
Der Kerl, wo uns
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