Marlene Suson 2
HIRAM FLYNT, ASHLEY GROVE. Sie erinnerte sich daran, wie schockiert Stephen – oder war es Billy? – reagiert hatte, als sie ihm erzählte, daß sie früher auf Ashley Grove gelebt hatte.
Es gibt noch andere wichtige Gründe, weshalb ich dich nicht heiraten kann.
Kein Wunder, wenn er ein verurteilter Verbrecher war! Alles begann sich um Meg zu drehen, und sie mußte sich an der Wand abstützen.
„Megan, was hast du?“
Sie fuhr zusammen, als sie Stephens besorgte Stimme hörte. Sie drehte sich um, den Steckbrief noch in der Hand. Bei seinem Anblick begann ihr Herz zu klopfen. Er hatte nichts an außer seiner Hose. Offenbar hatte er ein Bad im Fluß genommen, denn sein Haar war noch ganz naß.
Er legte das Handtuch auf den Tisch und kam zu ihr. Als er die Hände nach ihr ausstreckte, wich sie zurück. Wortlos hielt sie ihm den Steckbrief hin.
Er fluchte wie ein Kutscher. „Wo hast du ihn gefunden? Er ist mir aus der Tasche gefallen, und ich suche ihn schon seit Tagen.“
„Er lag unterm Bett an der Wand. Wo hast du ihn denn her?“
„Vom Wirtshaus“, gab er grimmig zurück. „Ich habe ihn von dem Brett abgerissen.“
„Warum? Weil du Billy Gunnell bist?“
„Nein, verdammt. Ich bin nicht Gunnell. Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich habe dir auch gesagt, daß man mich mit Gun- nell verwechselt hat, und ich mußte verhindern, daß das noch einmal passiert. Deshalb habe ich den Steckbrief abgenommen. Wie du siehst, paßt die Beschreibung ziemlich gut auf mich.“
„Ziemlich gut? Du bist es!“
„Megan, ich schwöre bei Gott, daß ich nicht Billy Gunnell bin.“
Sie hätte alles dafür gegeben, ihm glauben zu können.
Doch sie konnte es nicht.
17. KAPITEL
Megs Nacken– und Rückenmuskeln schmerzten, denn sie hatte stundenlang am Spinnrad gesessen.
Stephen saß mit Josh am Tisch und übte mit ihm Latein. Meg freute sich über die Fortschritte, die ihr Bruder unter Stephens Anleitung machte.
Als sie fertig waren, brummte Josh: „Ich weiß gar nicht, war- um ich mir das antun muß. Ist doch reine Zeitverschwendung. Ich komme ja doch nie aufs College.“
„Es ist durchaus keine Zeitverschwendung“, widersprach Stephen.
Meg hielt den Atem an. Meinte Stephen damit sein Verspre- chen, Josh eine Ausbildung zu ermöglichen, wenn sie seine Mätresse würde?
„Latein trainiert und diszipliniert deinen Verstand, so wie physische Arbeit es mit deinem Körper tut“, fuhr Stephen fort.
Meg atmete auf. Er hatte also nicht daran gedacht. Seit er ihr vor vier Tagen dieses beschämende Angebot gemacht hatte, war er nicht mehr darauf zurückgekommen. Er hatte sich ihr gegen- über wie ein perfekter Gentleman verhalten. Sie wußte, daß die gespannte Atmosphäre zwischen ihnen ihre Schuld war, nicht seine. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart unbehaglich und be- fangen, wohingegen er tat, als wäre nichts geschehen. Der einzige Unterschied in seinem Verhalten war, daß er sich noch mehr um sie bemühte als sonst.
Wenn sie morgens aufstand, fand sie regelmäßig vor ihrer Schlafzimmertür eine Schüssel mit heißem Wasser für ihre Mor- gentoilette. Dauernd schlug er etwas vor, wovon er glaubte, daß es ihr Freude machen würde. Er las ihr aus dem Kaufmann von Venedig vor oder gab seine „kleinen Vorstellungen“, die ihr so viel Spaß machten. Er versuchte alles, um sie zum Lachen zu bringen, und oft gelang es ihm auch.
Und noch etwas mußte man ihm zugute halten: Er arbei- tete genauso hart wie vorher auf der Farm. Er hatte damit begon- nen, Baumstümpfe aus dem Maisfeld zu roden, eine schwierige, mühselige Arbeit, die seine ganze Kraft beanspruchte. Obwohl man ihm ansah, wie müde er nach der täglichen Arbeit war, hielt er sein Versprechen und gab Josh jeden Abend eine Latein- stunde.
Meg wußte nicht mehr, was sie von Stephen Wingate hal- ten sollte. Sein unehrenhaftes Angebot und dann noch dieser Steckbrief hatten all ihre Zweifel wieder geweckt.
Er behauptete, nicht Billy Gunnell zu sein, doch die Beschrei- bung auf dem Steckbrief hätte nicht genauer sein können. Und weshalb hätte er sich die Mühe machen sollen, den Steckbrief von dem Brett zu reißen, wenn er nicht der Gesuchte war?
Doch je länger sie ihn kannte, desto schwerer fiel es ihr, ihn für einen Verbrecher zu halten.
Meg hatte Josh nichts von dem Steckbrief erzählt. Stephen hatte einen so guten Einfluß auf ihren Bruder, und der Junge bewunderte ihn so sehr, daß sie ihm seine Illusionen nicht zerstören wollte. Sie
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