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Marlon, die Nummer 10

Marlon, die Nummer 10

Titel: Marlon, die Nummer 10 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Masannek
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noch ein paar Sekunden. Dann ging sie aus dem Zimmer hinaus. Ein Wilder Kerl nach dem anderen folgte ihr und als letzter ging Leon, mein Bruder. In der Tür drehte er sich noch einmal zu mir um.
    „Das gilt auch für mich!“, sagte er leise, aber bestimmt. „Ich tu alles für dich.“
    „Ach ja, was du nicht sagst“, spottete ich. „Dann gib mir dein Knie!“
    Ich sah ihn nicht an. Ich wartete nur darauf, dass Leon die Tür hinter sich schloss. Dann war es still. So still, dass selbst mein Herzschlag verstummte. Aber genau das hatte ich die ganze Zeit über gewollt.

Rocces Bitte
    In den nächsten Tagen und Wochen richtete ich mich in meiner Einsamkeit ein. Meine Eltern versuchten, das zu verhindern, aber ich nahm ihre Hilfe nicht an. Sie erzählten von anderen Ärzten. Und davon, dass es vielleicht doch noch eine Möglichkeit für mein Knie geben würde. Doch ich wollte nichts davon hören. Mich interessierte auch nicht, dass die Osterferien anfingen. Verflixt! Versteht ihr das nicht? In den Osterferien vor einem Jahr hatte alles begonnen. Vor einem Jahr hatten wir den Winter besiegt und den Dicken Michi geschlagen. Wir hatten unseren Verein, die Wilden Fußballkerle , gegründet und ich hatte die Trikots entworfen und die Spielerverträge gemalt. Ich hatte das alles gemacht, damit Rocce bei uns mitspielen durfte, und mit ihm zusammen wurden wir die beste Fußballmannschaft der Welt. Ja, vor einem Jahr war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wir hatten von steilen Fußballerkarrieren geträumt und jeder, dem wir von unseren Träumen erzählten, hatte uns auf der Stelle geglaubt, dass wir sie einmal wahr machen würden. Doch jetzt war alles vorbei. Für mich war alles vorbei. Meine Träume waren zerstört. Und deshalb wollte ich auch nichts vom Teufelstopf wissen.
    In dem trainierten die Wilden Kerle nämlich jetzt jeden Tag. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang kickten sie dort, tranken in den Pausen bei Willi am Kiosk Apfelsaftschorle und hörten seine Geschichten. Geschichten über die großen Tage des Fußballs, über Franz Beckenbauer, den Kaiser, über Gerd Müller, den Bomber der Nation, und immer wieder über Pelé, den besten Fußballspieler, den es je gab. Oder sie erzählten sich selbst von ihren Triumphen. Vom Sieg über die Unbesiegbaren Sieger und vom Spiel gegen die Bayern . Vom Sieg über den SV 1906 , in dem sie nur ihre Unterhosen trugen, oder vom Sieg bei der Hallen-Stadtmeisterschaft. Ja, und in all diesen Geschichten tankten sie Mut: den Mut und die Kraft, die sie brauchten, um sich für die Kinder-Weltmeisterschaft zu qualifizieren und um dem TSV Turnerkreis , dem Spitzenreiter in der Dimension Acht, der Gruppe 8 der E1-Jugendmannschaften, doch noch den Titel abzujagen.
    Krumpelkrautrüben- und krapfenkrätziger Schlitzohrenprirat! Das war die wildeste Zeit, die es für einen Wilden Kerl gab. Dafür legte ich beide Beine ins Feuer. Beide Beine, meine Seele und auch noch mein Herz. Aber was nutzte mir das? Sie würden nur lichterloh brennen. Ich gehörte nicht mehr dazu. Und weil das so war, stürzte ich mich in die Hausaufgaben, die ich nachholen musste. Ich las irgendwelche Bücher, die mich nicht interessierten, schaute Filme im Fernsehen an, die mich fürchterlich langweilten, oder ich starrte einfach gegen die Wand. Auf jeden Fall nahm ich die Anrufe, die ich täglich von den Wilden Kerlen bekam, kein einziges Mal an und die Briefe, die mir Rocce jeden Tag schickte, sandte ich ungeöffnet an ihn zurück. Ich gehörte nicht mehr dazu. Ich war kein Wilder Kerl mehr und auch wenn sich ganz tief in mir noch ein Widerstand regte, wurde dieser Widerstand nach den Osterferien im Keim erstickt. Die Wilden Fußballkerle gewannen ihre Punktspiele gegen Deisenhofen und Waldtrudering , zogen mit einem Punkt Vorsprung am TSV Turnerkreis vorbei und übernahmen die Tabellenspitze. Sie schafften das ohne mich. Sie brauchten mich nicht und sie würden mich niemals vermissen. Das wusste ich jetzt und deshalb war es mir ziemlich egal, als man mir die Schrauben aus dem Bein nahm und mich dazu zwang, mit den Rehabilitationsübungen zu beginnen. Nach all den Wochen im Bett, musste ich das Laufen wieder ganz von vorn lernen, und obwohl ich mein Bett nicht mehr sehen konnte, hatte ich dazu keine Lust.
    Trotzdem lernte ich allmählich, auf Krücken zu gehen, und als ich eines Abends auf dem Rückweg vom Klo den Flur entlang humpelte, stand Rocce vor mir.
    „Hallo, Marlon!“, sagte er leise, doch ich humpelte

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