Marlon, die Nummer 10
hatte, dass ich ihm half. Doch ich hatte abgelehnt.
„Also dann, Marlon, ich wünsch dir viel Glück!“, rief der Bayern -Doc und ging in sein Haus.
Ich starrte auf die geschlossene Tür.
„Marlon! Was ist?“, holte mich Juli aus meinen Gedanken. „Fahren wir los?“
„Ja, wie du willst“, nickte ich und dann trat er auch schon in die Pedale.
Alles zu spät
An diesem Sonntag schlief ich zum ersten Mal aus. Ich wachte nicht um halb sieben auf. Ich musste nicht bis um Viertel nach acht warten. Ich wurde auch nicht von Leon mit seiner Lieblingsdrohung begrüßt. Das ,Dafür bring ich dich um!‘ fiel an diesem Tag aus. Stattdessen brachte er mir das Frühstück ans Bett.
Mit „Hey, du Langschläfer!“ trat er in mein Zimmer und knallte mir das Tablett auf den Bauch. „Es ist schon halb vier!“
Ich schaute ihn überrascht an.
„Ja, guck nicht so blöd“, grummelte er. „Wir müssen in einer Stunde im Teufelstopf sein. Nur deshalb mach ich das hier. Dieses Frühstück ist eine absolute Seltenheit. Das kommt nie wieder vor. Hast du kapiert?“
„Na klar!“, nickte ich. „Aber ich brauche noch Salz!“
Leon schnappte nach Luft.
„Ja, du hast richtig verstanden“, setzte ich noch einen drauf. „Du hast das Salz vergessen und ohne das kann ich die Eier nicht essen. Das wär doch schade, findest du nicht?“
Leon ballte die Fäuste.
„Dafür“, zischte er. „Ja, dafür bring ich dich ...!“
Doch er traute sich nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.
„Dafür tust du was, bitte?“, grinste ich frech. „Na, komm schon, Bruderherz. Sag mir, dass du mich magst.“
„Okay! Wie du willst!“, fauchte Leon. „Dafür bring ich dich um!“
Er blitzte mich an. Er meinte es wirklich absolut ernst, doch dann mussten wir beide lachen. Die ganze Last der letzten Wochen fiel von uns ab. Leon holte das Salz. Er setzte sich zu mir ans Bett und zum ersten Mal in unserem Leben frühstückten wir wirklich gemeinsam.
Danach gab es nur noch einen Gedanken: das Training im Teufelstopf . Ich sprang auf mein BMX-Mountainbike und fühlte mich so, als liefe ich zum ersten Mal im Frühsommer barfuß über die Wiese. Schon auf dem Weg zum Stadion trafen wir alle zusammen. Im Wilden Pulk preschten wir durch die Stadt. Selbst Deniz war wieder dabei. Er hatte von meiner Rückkehr gehört. Und dann war es endlich soweit. Nach endlosen Wochen öffnete sich die Zugbrücke wieder für mich und über sie jagte ich in den Teufelstopf , in den Hexenkessel aller Hexenkessel. In das Stadion der Wilden Fußballkerle e.W. !
Ich bremste mein Mountainbike wie ein Pony. Es stieg auf dem Hinterrad hoch. Wie in Zeitlupe schwebte ich in der Luft und dabei sog ich jede Einzelheit auf: Die Gesichter der Wilden Kerle . Die Baustrahler-Flutlichtanlage. Die vier Türme an den Ecken des Holzzauns. Den Kiosk, den Wohnwagen und natürlich auch Willi. Der beste Trainer der Welt lachte mich an. Er vergaß sogar, seine Mütze in den Nacken zu schieben und irgendetwas zu grummeln. So sehr freute er sich, dass ich wieder da war. Ja, und so sehr freute ich mich.
Doch dann wurde es hart. Mehr als hart, sage ich euch. Der Bayern -Doc behielt nämlich Recht. Ja, ihr habt richtig gehört. Ich hatte verflixt noch mal alles verlernt. Selbst das Laufen ging nicht mehr wie früher. Meine Beine waren wie aus Gummi. Nach all den Wochen im Krankenhaus hatte ich überhaupt keine Kraft und der Ball war plötzlich ein Flummi. Das leichteste Zuspiel sprang mir beim Stoppen vom Schuh. Kein Pass fand sein Ziel. Jeder Ball, den ich von meinen Mannschafts-kameraden bekam, ging sofort an den Gegner verloren, und von meiner Tarnkappenüberraschungstaktik oder meiner Satellitenspielübersicht war ich Millionen Lichtjahre entfernt. Ich stolperte wie ein Tölpel über den Rasen. Ich stand nur im Weg, ich krachte in meine Mitspieler rein und ich rannte selbst Markus, den Unbezwingbaren, über den Haufen. Ja, ich stieß ihn zusammen mit dem Leder, das er schon längst und ganz sicher im Arm hielt, ins Netz unseres eigenen Tores. Das hatte selbst Raban in seinen schlechtesten Zeiten nicht fertig gebracht. Und der hatte nicht einen, sondern zwei falsche Füße.
Trotzdem sagten die andern kein Wort. Selbst Leon drohte mir nicht, dass er mich umbringen würde. Sie ließen mich spielen. Sie ließen mir Zeit. Sie wussten, wie schwer der erste Tag für mich war. Doch ich las es in ihren Gesichtern. Vor allem in dem von Deniz, der Lokomotive, der schon fast aufgehört
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