Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
dem Land näherten und nach Westen auf Odessa zu fuhren (ihre Annäherung an das Land war trotz der Kurskorrektur noch östlich der Stadt erfolgt), konnte sie, als sie die Falltaue gegen den Wind hochkletterte, den Strand erkennen, den das Meer gebildet hatte. Ein weiter Strand mit von Gras bewachsenen Dünen und hier und da durchtretenden Mündungen von Bächen. Eine hübsche Küste, und nahe dem Randgebiet von Odessa gelegen. Also ein Teil der Schönheit Odessas, ein Teil der Stadt.
Im Westen erhoben sich nun die gezackten Gipfel der Hellespontus Montes über die Wellen, fern und klein, ganz anders im Charakter als der glatte Anstieg im Norden. Sie mußten also dem Ziel nahe sein. Maya kletterte an den Tauen noch höher. Und da war es nun, auf dem nördlichen Hang. Die obersten Reihen von Parks und Gebäuden, alles grün und weiß, türkis und terrakotta. Und dann der große Bogen der Stadtmitte, der wie ein riesiges Amphitheater auf die Bühne des Hafens hinabschaute, der über dem Horizont auftauchte. Zuerst der Leuchtturm, dann die Statue von Arkadij, dann der Wellenbrecher und die tausend Masten des Hafens und das Gewirr von Dächern und Bäumen hinter dem fleckigen Beton der Kaimauer. Odessa.
Sie eilte die Taue hinunter fast wie ein Mitglied der Mannschaft, drückte ein paar von denen an sich und dann Michel. Sie merkte, wie sie grinste und der Wind über sie hin strich. Sie kamen in den Hafen, und die Segel falteten sich in ihre Masten wie Schnecken, die man berührt. Sie tuckerten in einen Landeplatz, gingen eine Gangway hinunter und das Dock entlang, hinauf durch das Hafenviertel und in den Park der Corniche. Und da waren sie nun. Die blaue Straßenbahn bimmelte noch auf der Straße hinter dem Park.
Maya und Michel gingen Hand in Hand die Corniche entlang und betrachteten die Speisenverkäufer und kleinen Straßencafes. Alle Namen wirkten neu, nicht einer war mehr derselbe; aber das war so mit Restaurants. Sie sahen alle ziemlich so aus wie zuvor, und die sich terrassenförmig hinter der Meeresfront erhebende Stadt war noch genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte. »Hier ist das Odeon, dort der Sinter... «
»Das ist, wo ich für Deep Waters gearbeitet habe. Ich möchte wissen, was sie jetzt alles machen.«
»Ich denke, die Aufrechterhaltung des Meeresniveaus hält eine ganze Menge von ihnen beschäftigt. Es gibt immer etwas mit dem Wasser zu tun.«
»Stimmt.«
Und dann kamen sie zu dem alten Praxis-Gebäude. Seine Wände waren jetzt größtenteils von Efeu bedeckt, der weiße Stuck verfärbt und die blauen Jalousien verblaßt. Das hatte einiges an Renovierung nötig, wie Michel bemerkte; aber Maya gefiel es so. Es war alt. Da auf dem dritten Stockwerk erkannte sie ihr altes Küchenfenster und den Balkon und daneben den von Spencer. Spencer selbst war wohl zu Hause.
Und sie gingen durch das Tor und begrüßten den neuen Pförtner. Und Spencer war wirklich irgendwie zu Hause. Er war an diesem Nachmittag gestorben.
D as hätte nicht so viel ausmachen sollen. Maya hatte Spencer Jackson seit Jahren nicht gesehen, und auch als er nebenan wohnte, hatte sie ihn nicht näher kennengelernt. Das hatte niemand. Spencer gehörte zu denen der Ersten Hundert, die zu verstehen am schwierigsten war, was viel zu sagen hatte. Ein Einzelgänger, der sein eigenes Leben führte. Er hatte als Teil der Oberflächenwelt unter einer angenommenen Identität als Spion gelebt, der fast zwanzig Jahre lang für die Gestapo in Kasei Vallis gearbeitet hatte, bis zu der Nacht, da die Stadt in die Luft gejagt und sowohl Sax als auch Spencer gerettet wurden. Zwanzig Jahre als jemand anders, mit einer falschen Vergangenheit, und niemandem, mit dem er sprechen konnte. Was konnte da aus jemanden werden? Aber Spencer hatte immer zurückgezogen gelebt, privat und selbstgenügsam. Darum hatte es ihm vielleicht nicht viel ausgemacht. Während ihrer Jahre in Odessa schien er in Ordnung zu sein. Er war natürlich stets bei Michel in Behandlung und gelegentlich ein sehr starker Trinker, aber angenehm als Nachbar und ein guter Freund, ruhig, solide und auf seine Weise verläßlich. Und er hatte bestimmt weiter gearbeitet, seine Produktion mit den bogdanovistischen Designern hatte nie nachgelassen, weder während seines Doppellebens noch danach. Ein großer Entwurfskünstler. Und seine Federzeichnungen waren schön. Aber was mußten zwanzig Jahre des Doppellebens jemanden antun? Vielleicht waren alle seine Identitäten angenommen gewesen.
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