Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
Maya hatte nie darüber nachgedacht. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Und jetzt, als sie Spencers Sachen in seinem leeren Apartment packte, wunderte sie sich, daß sie nie zuvor wenigstens versucht hatte zu erfahren, wie Spencer es geschafft hatte, so zu leben, daß er bei niemandem Argwohn erregte. Das war eine sehr merkwürdige Leistung. Weinend sagte sie zu Michel: »Man muß sich über jeden wundern!«
In den nächsten Tagen kamen erstaunlich viele Gäste zu seiner Trauerfeier. Sax, Nadia, Mikhail, Zeyk und Nazik, Roald, Cojote, Mary, Ursula, Marina und Vlad, Jürgen und Sibilla, Steve und Marion, George und Edvard, Samantha - es war wie eine Zusammenkunft der restlichen Hundert und befreundeter Issei. Und Maya blickte rundum in alle die vertrauten alten Gesichter und machte sich traurigen Herzens klar, daß dieses Zusammentreffen wohl für lange Zeit das letzte sein würde. Von der ganzen Welt kamen immer weniger zusammen, bis eines Tages einer von ihnen einen Anruf bekommen und erkennen würde, daß sie die letzten waren, die es noch gab. Ein schreckliches Schicksal. Aber nicht eines, das Maya zu erleiden gedachte. Sie würde sicher vorher sterben. Der schnelle Verfall würde sie ereilen oder sonst etwas. Sie würde sich, wenn es sein mußte, vor einen Omnibus werfen. Alles, nur um einem solchen Schicksal zu entgehen. Na ja - nicht gerade alles. Vor einen Bus zu springen, wäre zu feige und zu mutig auf einmal. Sie erwartete sicher, daß sie sterben würde, ehe es zu so etwas käme. Ah, nur keine Angst. Man konnte darauf vertrauen, daß der Tod erscheinen würde. Ohne Zweifel, noch ehe sie es wünschte. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, der oder die letzte Überlebende der Ersten Hundert zu sein. Neue Freunde, ein neues Leben - war das nicht, wonach sie jetzt suchte? So daß diese traurigen alten Gesichter für sie nur ein Hindernis wären.
Sie hielt grimmig bei dem kurzen Gedenkgottesdienst und den schnellen Lobpreisungen durch. Die Sprecher schienen nicht genau zu wissen, was sie sagen sollten. Von Da Vinci war eine ganze Anzahl von Ingenieuren gekommen, Spencers Kollegen aus seinen Jahren als Designer. Seltsam, daß so viele Leute ihn gern gehabt hatten, daß auch sie selbst ihn gemocht hatte. Merkwürdig, daß ein so versteckt lebender Mensch eine solche Reaktion bewirken konnte. Vielleicht hatten sie alle etwas in seine Unbeschriebenheit projiziert, sich ihren eigenen Spencer gemacht und als Teil ihrer selbst gelobt. Das taten sowieso alle. So war das Leben.
Aber jetzt war er von ihnen gegangen. Sie schlenderten zum Hafen hinunter, und die Ingenieure ließen einen Heliumballon los. Als er hundert Meter Höhe erreicht hatte, rieselte Spencers Asche langsam heraus. Ein Teil des Dunstes, des Himmelsblaus, des abendlichen Messingschimmers.
In den folgenden Tagen zerstreute sich die Menge, und Maya unternahm Spaziergänge durch Odessa, schnupperte in Läden für Gebrauchtmöbel und saß an der Corniche auf den Bänken, um die Sonne über das Wasser hüpfen zu sehen. Es war herrlich, wieder in Odessa zu sein; aber sie fühlte den Schauer von Spencers Tod viel stärker, als sie erwartet hätte. Er warf eine dunkle Wolke selbst über die Schönheit dieser wundervollen Stadt. Er erinnerte sie daran, daß sie, indem sie hierher zurückgekehrt und in das alte Haus eingezogen waren, das Unmögliche versuchten. Sie wollten wieder in die Vergangenheit eintauchen und das Fortschreiten der Zeit leugnen. Hoffnungslos. Alles ging vorbei. Alles, was sie taten, taten sie das letzte Mal und würden es nie wieder tun. Gewohnheiten waren solche Lügen, die einen in die Stimmung einlullten, daß man glaubte, es müßte etwas Bleibendes geben, aber in Wirklichkeit war nichts von Dauer. Dies war das letzte Mal, daß sie je auf dieser Bank sitzen würde. Wenn sie morgen zur Corniche ging und sich auf die gleiche Bank setzte, wäre es wiederum das letzte Mal, und es würde nichts Bleibendes daran sein. Das letzte Mal nach dem letzten Mal - so würde es immer und immer weitergehen. Immer ein letzter Moment nach dem letzten. Endgültigkeit reihte sich an Endgültigkeit in nahtlos endloser Folge. Sie konnte das nicht richtig fassen. Worte konnten es nicht ausdrücken, Ideen konnten es nicht erfassen. Aber sie fühlte es wie die Kante einer Wellenfront, die immer nach außen drängt, oder wie ein beständiger Wind in ihrem Geist, der Dinge so rasch dahin jagt, daß man es sich kaum vorstellen und nur schwer nachempfinden
Weitere Kostenlose Bücher