Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
Wiederherstellung seines Gedächtnisses) ... Die Verbindung von Körper und Geist war so stark, daß wahrscheinlich die Unterscheidung an sich falsch war, ein Nachklang von cartesianischer Metaphysik oder früheren religiösen Ansichten über die Seele. Der Geist war das Leben eines Körpers. Erinnerung war Geist. Und so war nach einer einfachen transitiven Gleichung Erinnerung gleich Geist. Darum war mit verschwundener Erinnerung auch das Leben wertlos. So mußte Michel in dieser letzten traumatischen halben Stunde gefühlt haben, als sein Ich unter der Sorge und dem Kummer über den geistigen Tod seiner Liebe in die verhängnisvolle Arhythmie verfallen war.
Man mußte sich daran erinnern, daß man am Leben war. Und darum mußte die Ekphorisation, das Wiederhervorholen aller früheren Eindrücke, versucht werden. Falls er sich die entsprechende anamnestische Methodologie erdenken könnte.
Natürlich konnte das gefährlich sein. Falls es ihm gelänge, einen Gedächtnisverstärker zu schaffen, würde dieser vielleicht das ganze System auf einmal erfassen, und niemand könnte vorhersagen, was das subjektiv für ein Gefühl sein würde. Man müßte es einfach versuchen. Es wäre ein Experiment. Ein Selbstversuch. Nun, das wäre nicht das erste Mal. Vlad hatte sich selbst die erste gerontologische Behandlung erteilt, obwohl sie ihn hätte töten können. Jennings hatte sich mit lebendem Pockenserum geimpft. Arkadijs Vorfahr Alexander Bogdanov hatte sein Blut gegen das eines jungen Mannes ausgetauscht, der an Malaria und Tuberkulose litt, und war gestorben, während der junge Mann noch weitere dreißig Jahre gelebt hatte. Und da gab es natürlich die Geschichte von den jungen Physikern in Los Alamos, die die erste Kernexplosion ausgelöst hatten und sich gefragt hatten, ob dadurch nicht die ganze Erdatmosphäre verbrennen könnte. Zugegebenermaßen ein etwas beunruhigender Fall von Selbstversuch. Im Vergleich damit schien die Einnahme von ein paar Aminosäuren keine große Sache zu sein - was die Brisanz anbelangte eher in der Tradition der Selbstversuche Dr. Hoffmanns mit LSD stehend. Vermutlich würde die Ekphorisation weniger desorientierend sein als ein LSD-Experiment. Das Bewußtsein würde sie bestimmt gar nicht bemerken. Der sogenannte Strom des Bewußtseins war recht unlinear, wie Sax nach eingehender Selbstbetrachtung glaubte sagen zu können. Daher könnte man höchstens einen raschen assoziativen Zug von Erinnerungen erleben oder ein wüstes Durcheinander - nicht unähnlich Saxens alltäglicher Stimmung, um ehrlich zu sein. Damit konnte er fertigwerden. Und er war auch bereit, etwas Traumatischeres zu wagen, falls das geschehen sollte.
Er flog nach Acheron.
I n Acheron war eine neue Gruppe in den alten Labors zugange, die inzwischen stark erweitert worden waren, so daß die ganze hohe Felsrippe ausgehöhlt und bebaut war. Es war jetzt eine Stadt von über zweihunderttausend Einwohnern. Gleichzeitig war es natürlich immer noch ein ansehnlicher Felsensporn von etwa fünfzehn Kilometern Länge und sechshundert Metern Höhe, der an keiner Stelle mehr als ein Kilometer breit war. Und es war immer noch ein Labor oder Laborkomplex in einer Weise, wie es Echus Overlook schon lange nicht mehr war - mehr wie Da Vinci und mit einer ähnlichen Organisation. Nachdem Praxis die Infrastruktur erneuert hatte, war von Vlad, Ursula und Marina die Bildung einer neuen biologischen Forschungsstation unternommen worden. Vlad war tot, aber Acheron hatte ein eigenes Leben und schien ihn nicht zu vermissen. Ursula und Marina leiteten ihre eigenen kleinen Labors und lebten noch in den Wohnungen, die sie mit Vlad geteilt hatten, direkt unter dem Kamm des Sporns in einer zum Teil ummauerten und mit Bäumen bewachsenen, sehr windigen Spalte. Sie führten ein Privatleben wie immer schon, nur noch stärker in ihre eigene Welt zurückgezogen, als es mit Vlad der Fall gewesen war. Man war in Acheron an sie gewöhnt; die jüngeren Wissenschaftler behandelten sie wie die wohlwollenden Großmütter der Station oder in den Labors auch einfach als Kolleginnen.
Aber Sax wurde von den jüngeren Forschern ebenso verblüfft angestarrt, als würden sie Archimedes vorgestellt. Es war verwirrend, so behandelt zu werden, als begegnete man einem derartigen Anachronismus; und Sax führte etliche höchst mühsame Gespräche in dem Bemühen, jeden zu überzeugen, daß er nicht den Stein der Weisen in der Hosentasche mit sich herumtrug und Wörter in
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