Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
gelernt hatten, und sich kein Teil des Gehirns als der Wesentliche erwiesen hatte, führten die enttäuschten Experimentatoren zu dem Schluß, daß das Gedächtnis sich >überall und nirgends< befand, entsprechend der Analogie mit einem Hologramm, noch verrückter als all die anderen Maschinenanalogien. Aber sie waren fassungslos und mühten sich weiter ab. Später klärten Experimente den Sachverhalt. Es wurde offenkundig, daß alle Aktivitäten des Bewußtseins sich auf einer viel kleineren Ebene abspielten als der neuronalen. Sax assoziierte das in Gedanken mit dem allgemeinen wissenschaftlichen Interesse an Miniaturisierung im Laufe des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts.
Bei dieser subtileren Bewertung hatte man begonnen, die Cytoskelette von Nervenzellen zu erforschen, die aus internen Gruppierungen von Mikroröhrchen mit Proteinbrücken dazwischen bestanden. Die Struktur dieser Mikrogebilde setzte sich aus Röhren aus dreizehn Säulen von Tubulin-Dimeren, erdnußförmigen kugligen Proteinpaaren von je acht-mal-vier-mal-vier Nanometern, die es, abhängig von ihrer elektrischen Polarisierung, in zwei verschiedenen Konfigurationen gab. Damit stellten die Dimeren einen möglichen Ein-Aus-Kippschalter des vermuteten Engramms dar. Aber sie waren so klein, daß der elektrische Zustand jedes Dimers durch die ihn umgebenden Dimere von den zwischen ihnen wirksamen Van-der-Waals-Kräfte beeinflußt wurde. Darum konnten Botschaften aller Art entlang jeder Mikroröhre und entlang der diese verbindenden Proteinbrücke verbreitet werden. Dazu war in jüngster Zeit noch ein weiterer Schritt in der Miniaturisierung gekommen. Jedes Dimer enthielt etwa 450 Aminosäuren, die durch Veränderung ihrer Sequenzen Information enthalten konnten. Und innerhalb der Dimersäulen gab es winzige Fäden aus Wasser in geordnetem Zustand, den man Vicinalwasser - also Nachbarwasser - nannte. Dieses war imstande, quantumkohärente Schwingungen längs des Röhrchens zu übertragen. Eine große Anzahl von Experimenten an lebenden Affengehirnen mit miniaturisiertem Gerät verschiedener Art hatte ergeben, daß sich bei denkendem Bewußtsein Sequenzen von Aminosäuren verlagerten. Die Röhrendimeren änderten an vielen verschiedenen Stellen im Gehirn ihre Konfiguration in gepulsten Phasen. Mikroröhrchen bewegten sich und wuchsen manchmal. Und in viel größerem Maßstab wuchsen dann dendritische Dornen, die neue Verbindungen schufen. Manchmal änderten sich die Synapsen auf Dauer, manchmal nicht.
Also besagte das beste derzeitige Modell, daß Erinnerungen als stehende Muster quantenkohärenter Oszillationen incodiert würden, hervorgerufen durch Veränderungen in den Mikroröhrchen und deren Bestandteilen, wobei alles nach Mustern innerhalb der Neuronen verlief. Obwohl es jetzt Forscher gab, die spekulierten, daß es signifikante Aktion sogar auf noch feineren ultramikroskopischen Ebenen geben könnte, die aber für immer jenseits ihrer Untersuchungsmöglichkeiten lägen (ein geläufiger Refrain), sahen manche Gelehrte Spuren von Anzeichen, daß die Schwingungen in der Art von Spin-Netz-Mustern strukturiert sein könnten, wie sie Baos Arbeit beschrieb - in verknüpften Knoten und Netzen, die Sax seltsam an den Plan des Gedächtnispalastes erinnerten - Räume und Korridore -, als ob die alten Griechen allein durch innere Schau die eigentliche Geometrie der Raumzeit erahnt hätten.
Auf jeden Fall war es sicher, daß diese ultramikroskopischen Aktivitäten durch die Plastizität des Gehirns nahegelegt wurden. Sie waren ein Teil davon, wie das Gehirn lernte und sich dann erinnerte. Also fand Erinnerung auf einer viel kleineren Ebene statt, als man sie sich früher vorgestellt hatte. Das Gehirn erhielt dadurch eine viel höhere Möglichkeit des Rechnens als zuvor: 10 24 Operationen in der Sekunde, oder gar bei manchen Berechnungen 10 43 . Das führte einen Forscher zu dem Schluß, daß jeder menschliche Verstand in gewissem Sinne komplizierter war als der ganze Rest des Universums (natürlich abzüglich seiner anderen Bewußtseine). Sax erinnerte das verdächtig an die starken anthropischen Phantome, die man allenthalben in der kosmologischen Theorie sah. Aber es war eine interessante Idee, und es lohnte sich, darüber nachzudenken.
Also ging nicht bloß mehr vor sich, sondern es geschah auch auf so feinen Ebenen, daß sicher Quanteneffekte im Spiel waren. Experimente hatten gezeigt, daß sich in jedem Gehirn kollektive Quantenphänomene in großem
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