Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
Gedächtnismodelle zu erklären.«
»Tatsächlich vergessen sie diese, sobald sie können«, warf Ursula ein.
»Ja. Und wenn dann die Berichte ausgegraben werden, hält niemand sie für völlig wahr. Es wird auf die Leichtgläubigkeit früherer Zeiten geschoben. Typischerweise kann man keinen Lebenden finden, der die beschriebenen Leistungen reproduzieren könnte. Darum besteht die Tendenz zu schließen, daß die früheren Forscher sich geirrt haben oder getäuscht worden sind. Aber eine Menge der Berichte war vorzüglich erhärtet.«
»Zum Beispiel?« fragte Sax. Es war ihm nicht eingefallen, sich nach echten funktionalen Berichten aus dem Organbereich der realen Welt umzuschauen, da diese stets anekdotisch sein mußten. Aber anscheinend war es doch sinnvoll, das zu tun.
»Der Dirigent Toscanini zum Beispiel kannte jede Note jedes Instruments in ungefähr zweihundertfünfzig symphonischen Werken auswendig«, sagte Marina, »und Text und Musik von rund einhundert Opern, dazu einer Menge kürzerer Werke.«
»Hat man das getestet?«
»Sozusagen in Stichproben. Einem Fagottisten zerbrach eine Taste seines Fagotts, und er meldete das Toscanini. Der überlegte und sagte ihm, er möge sich keine Sorgen machen, da er an diesem Abend diese Note nicht zu spielen haben würde. Und er dirigierte ohne Noten und schrieb fehlende Teile für Spieler auf und so weiter.«
»Oha!«
»Der Musikforscher Tovey hatte eine ähnliche Begabung«, fuhr Ursula fort. »Das ist bei Musikern nicht ungewöhnlich. Es ist so, als wäre die Musik eine Sprache, wo unglaubliche Leistungen manchmal möglich sind.«
»Hmm.«
»Ein Professor Athens an der Universität Cambridge im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert hatte eine umfassende Kenntnis aller möglichen Gebiete - wiederum Musik, aber auch Lyrik, Philosophie, Mathematik und das Tagesgeschehen seiner eigenen Gegenwart und Vergangenheit. Tag für Tag. Es wird berichtet, er hätte oft gesagt: >»Interesse fokussiert die Aufmerksamkeit. <«
»Stimmt«, sagte Sax.
»Er benutzte sein Gedächtnis meistens für das, was er interessant fand. Das nannte er ein Interesse an der Bedeutung. Aber im Jahre 2060 erinnerte er sich noch genau an eine Liste von dreiundzwanzig Wörtern, die er 2032 für einen einzigen Test gelernt hatte. Es gibt noch tausend andere Geschichten.«
»Ich möchte gern mehr über ihn hören.«
»Ja, er war perfekter als manch anderer«, sagte Ursula. »Die sogenannten >Kalender-Rechner< oder Leute, die sich an Bilder, die man ihnen gezeigt hat, in allen Einzelheiten erinnern können, sind oft in anderen Bereichen ihres Lebens behindert.«
Marina nickte. »Wie der Lette Schereschewskij und der als V.P bekannte Mann, die sich bei Tests und im allgemeinen an wirklich enorme Mengen zufälliger Fakten erinnerten. Aber beide litten an Synästhesie.«
»Hmm. Vielleicht Überaktivität des Hippoccampus.«
»Vielleicht.«
Sie erwähnten noch etliche Fälle mehr. Ein Mann namens Finkelstein, der die Wahlergebnisse der gesamten Vereinigten Staaten schneller ausrechnen konnte als alle Rechenmaschinen der 1930er Jahre. Talmudgelehrte, die nicht nur den Talmud auswendig kannten, sondern auch die Stellung jedes Wortes auf jeder Seite. Geschichtenerzähler, die sämtliche Verse Homers auswendig kannten. Sogar Menschen, von denen man sagte, sie hätten die Renaissancemethode des Gedächtnispalastes mit großem Erfolg benutzt. Sax hatte das nach seinem Schlag selbst mit recht gutem Erfolg versucht. Es gab viele Erscheinungsformen.
»Diese außerordentlichen Fähigkeiten scheinen aber nicht dasselbe zu sein wie das gewöhnliche Gedächtnis«, bemerkte Sax.
»Eidetisches Gedächtnis«, sagte Marina, »gründet sich auf Bilder, die bis ins kleinste Detail wiederkehren. Man sagt, das sei die Weise, in der sich die meisten Kinder erinnern. In der Pubertät ändert sich für die meisten von uns die Art, wie wir uns an Veränderungen erinnern. Das ist so, als würden jene Personen nie die kindliche Art des Erinnerns verlieren.«
»Hmm«, machte Sax. »Ich frage mich aber immer noch, ob es sich dabei um die oberen Extremfälle kontinuierlicher Verteilung von Fähigkeiten handelt, oder ob es Beispiele einer seltenen bimodalen Verteilung sind.«
Marina zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Aber wir haben hier ein Studienobjekt.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Zeyk. Er und Nazik sind hierher gezogen, so daß wir ihn untersuchen können. Er ist immer sehr kooperativ, und sie redet ihm zu.
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