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Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Titel: Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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umdrehen.«
    »Großer Gott! Es hat ja keinen Sinn, mit dir zu reden.«
    »Weil du Unsinn redest, mein Bester. He, ich hab nicht gegen die Boches gekämpft, um mir deinen Schwachsinn anzuhören.«
    »Boing! Es geht wieder los«, bemerkte Momo und knallte eine Karo-Acht auf Fonfons Kreuz-Ass.
    »Du bist nicht gefragt! Du hast mit dem Pack von Mussolini gekämpft! Sei froh, dass du mit uns an einem Tisch sitzen darfst!«
    »Ich habe gewonnen«, sagte ich.
    Aber es war zu spät. Momo hatte seine Karten hingeschmissen. »He! Ich kann auch woanders spielen.«
    »Genau. Geh zu Lucien. Bei ihm sind die Karten blau-weißrot, wie die Nationalfahne. Und der Pik-König trägt ein schwarzes Faschis - tenhemd.«
    Momo war gegangen und hatte nie wieder einen Fuß in die Kneipe gesetzt. Aber er ging auch nicht zu Lucien. Er spielte nicht mehr mit uns Karten, und damit basta. Das war schade, denn wir mochten Momo gern. Aber Fonfon hatte Recht. Bloß weil man älter wurde, brauchte man nicht die Klappe zu halten. Mein Vater wäre genauso gewesen. Vielleicht noch schlimmer, denn er war Kommunist gewesen, und der Kommunismus war heute nur noch ein Haufen kalter Asche.
    Fonfon kam mit einem Teller Brote zurück, die erst mit Knoblauch und dann mit frischen Tomaten eingerieben worden waren. Nur um den Gaumen zu besänftigen. Dazu fand der Rosé eine neue Daseins - berechtigung in unseren Gläsern.
    Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen erwachte der Hafen langsam zum Leben. Es herrschte nicht so ein lärmendes Durcheinander wie auf der Canebière. Nein, nur ein Gemurmel. Hier und da Stimmen oder Musik. Losfahrende Autos. Bootsmotoren, die angeworfen wurden. Und der erste Bus, der kam und die Schüler einsammelte.
    Les Goudes, knapp eine halbe Stunde vom Stadtzentrum entfernt, war nach dem Sommer nur ein Dorf von sechshundert Einwohnern. Seit ich vor gut zehn Jahren nach Marseille zurückgekehrt war, hatte ich mich nicht entscheiden können, irgendwo anders zu wohnen als hier, in Les Goudes. In einer kleinen Hütte —zwei Zimmer, Küche —, die ich von meinen Eltern geerbt hatte. Während meiner müßigen Stunden hatte ich sie mehr schlecht als recht wieder instand gesetzt. Es war alles andere als luxuriös, aber acht Stufen unter meiner Terrasse lagen das Meer und mein Boot. Und das war bestimmt besser als jede Hoffnung auf das Paradies im Jenseits.
    Kaum zu glauben für jemanden, der noch nie hier draußen war, dass dieser kleine, sonnenverbrannte Hafen ein Stadtteil von Mar - seille ist. Der zweitgrößten Stadt Frankreichs. Hier ist man am Ende der Welt. Die Straße geht einen Kilometer vorher, bei Callelongue, in einen steinigen Pfad über, der durch sonnengebleichtes, karg bewachsenes Gelände führt. Hier begann ich meine Wanderungen. Durch d as Tal der Mounine und die Cail les-Ebene, von der man zu den Pässen von Cortiou und Sormiou hinaufsteigen kann.
    Das Boot der Taucherschule verließ die Fahrrinne und nahm Kurs auf die Frioul-Inseln. Fonfon sah ihm nach, dann schaute er mich an und sagte ernst: »Nun, was hältst du davon?«
    »Ich glaube, wir werden beschissen.«
    Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. Er konnte alles Mögliche meinen: den Innenminister, die Islamische Heilsfront, Clinton. Den neuen Trainer von Olympique Marseille. Oder sogar den Papst.
    Aber meine Antwort stimmte in jedem Fall. Weil wir mit Sicher - heit beschissen wurden. Je mehr sie uns die Ohren voll quatschten von Sozialstaat, Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und dem ganzen Blabla, desto gründlicher wurden wir beschissen. So sicher, wie zwei und zwei gleich vier ist.
    »Ja«, sagte er, »das glaube ich auch. Es ist wie beim Roulette. Du setzt und setzt, und es ist doch nur ein Loch da, und du bist immer der Verlierer. Immer der Dumme.«
    »Aber solange du setzt, lebst du noch.«
    »Schon wahr! Nur, heutzutage muss man hoch pokern. Was mich betrifft, mein Freund, mir gehen die Chips aus.«
    Ich trank den letzten Schluck Rosé und sah ihn an. Sein Blick ruhte auf mir. Er hatte dicke, fast lilafarbene Augenringe. Sie betonten die Magerkeit seines Gesichts. Ich hatte Fonfon nicht altern sehen, wusste nicht einmal, wie alt er war. Fünfundsiebzig, sechsundsieb - zig. So alt war das nun auch wieder nicht.
    »Ich fang gleich an zu heulen«, sagte ich im Spaß.
    Aber ich wusste, dass er nicht scherzte. Es kostete ihn jeden Morgen große Überwindung, die Kneipe aufzumachen. Er ertrug die Gäste nicht mehr. Er ertrug die Einsamkeit nicht mehr.

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