Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Wie hatte er sie nur verlieren können? Als er aus dem Bahnhof trat, hatte er sie noch. Er hatte seine Fahrkarte hineingesteckt.
Dann erinnerte er sich. Auf der Bahnhofstreppe hatte ihn ein Beur um Feuer gebeten. Er hatte sein Zippo gezückt. Im selben Moment hatte ihn ein anderer Beur, der die Stufen hinunterrannte, von hinten angerempelt, beinahe gestoßen. Wie ein Dieb, hatte er noch gedacht. Um ein Haar wäre er die Treppe runtergefallen, hätte der andere ihn nicht aufgefangen. Er hatte sich prächtig leimen lassen.
Schwindel packte ihn. Wut, und Besorgnis. Keine Papiere mehr, keine Telefonkarte, keine Fahrkarte und vor allem fast kein Geld. Ihm blieb nur das Wechselgeld von der Fahrkarte und der Schachtel Camel. Dreihundertzehn Francs. »Scheiße!«, fluchte er laut.
»Alles in Ordnung?«, fragte eine alte Dame.
»Jemand hat mir die Brieftasche geklaut.«
»Oh! Armer Junge! So ein Pech! Da kann man gar nichts machen! So was kommt jeden Tag vor.« Sie sah ihn voller Mitgefühl an. »Aber besser nicht zur Polizei gehen. Hören Sie! Besser nicht! Die machen Ihnen nur noch mehr Ärger!«
Und sie ging weiter, ihre kleine Handtasche fest an die Brust gepresst. Guitou sah ihr nach. Sie verschwand in der bunten Menge von Passanten, größtenteils Schwarze und Araber.
Marseille fing ja gut an!
Um das Unheil zu vertreiben, küsste er die Goldmedaille mit der Jungfrau Maria, die er auf seiner vom Sommer in den Bergen noch gebräunten Brust trug. Seine Mutter hatte sie ihm zur Kommunion geschenkt. An jenem Morgen hatte sie die Kette von ihrem Hals gelöst und sie ihm umgelegt. »Sie kommt von weit her«, hatte sie gesagt, »sie wird dich beschützen.«
Er glaubte nicht an Gott, aber wie alle Söhne aus italienischen Familien war er abergläubisch. Und außerdem – die Jungfrau zu küssen, war, als küsse er seine Mutter. Als er noch klein war, hatte seine Mutter ihm immer einen Gutenachtkuss auf die Stirn gegeben. Dabei war die Medaille von ihren vollen Brüsten bis auf seine Lippen herabgeglitten.
Er verscheuchte dieses Bild, das ihn immer noch erregte. Und dachte an Naïma . Ihre Brüste, wenn auch kleiner, waren ebenso schön wie die seiner Mutter. Ebenso dunkel. Eines Abends, als er Naïma hinter der Scheune der Rebouls küsste, hatte er seine Hand unter ihren Pullover gleiten lassen und sie gestreichelt. Sie hatte es geduldet. Langsam hatte er den Pulli hochgeschoben, um sie zu bewundern. Mit zitternden Händen. »Gefallen sie dir?«, hatte sie leise gefragt. Er hatte nicht geantwortet, nur den Mund geöffnet, um sie mit den Lippen zu umschließen, erst die eine, dann die andere. Er bekam eine Erektion. Er würde Naïma wieder sehen, alles andere war nicht so wichtig.
Er würde schon zurechtkommen.
Naïma wachte ruckartig auf. Ein Geräusch im Stockwerk über ihnen. Ein ungewöhnliches Geräusch. Dumpf. Ihr Herz schlug schneller. Sie horchte mit angehaltenem Atem. Nichts. Stille. Durch die Fensterläden drang schwaches Licht. Wie spät mochte es sein? Sie hatte keine Uhr dabei. Guitou schlief friedlich. Auf dem Bauch. Mit dem Gesicht zu ihr. Sie konnte kaum seinen Atem hören. Das beruhigte sie, dieses regelmäßige Atmen. Sie streckte sich wieder aus und kuschelte sich mit offenen Augen an ihn. Sie hätte gern eine geraucht, zur Beruhigung. Um wieder einzuschlafen.
Sanft legte sie ihre Hand auf seine Schultern und strich ihm zärtlich über den Rücken. Er hatte eine seidige Haut. Weich. Wie Seine Augen, sein Lächeln, seine Stimme, die Worte, die er ihr Sagte. Wie seine Hände auf ihrem Körper. Fast weiblich. Die ande r en Jungs, die sie kennen gelernt hatte, und sogar Mathias, mit dem sie geflirtet hatte, waren rauer in ihrer Art. Guitou hatte sie nur einmal angelächelt, und schon sehnte sie sich danach, in seine Arme zu kommen und den Kopf an seine Brust zu schmiegen.
Sie hätte ihn gern geweckt. Damit er sie streichelte, wie eben. Das hatte ihr gefallen. Seine Finger auf ihrem Körper, sein bewundernder Blick, der sie schön machte. Und verliebt. Mit ihm zu Schlafen, war ihr ganz natürlich vorgekommen. Auch das hatte ihr gefallen. Würde es beim zweiten Mal noch genauso schön sein? War es immer so? Bei der Erinnerung durchlief sie ein wohliger Schauer. Sie lächelte, drückte einen Kuss auf Guitous Schulter Und kuschelte sich noch enger an ihn. Er war sehr warm.
Er bewegte sich. Sein Bein glitt zwischen die ihren. Er öffnete die Augen.
»Du bist wach?«, murmelte er und strich ihr übers
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