Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Idol. Eine Frau brüllte. Das Geräusch wurde leiser. Ich nutzte die Gelegenheit, um ein zweites Mal zu klingeln. »Es klingelt«, rief die Frau. Mourad machte auf.
Mourad war einer der Jungen, denen ich vorhin beim Basketball zugesehen hatte. Er war mir aufgefallen. Er spielte mit einem wachen Mannschaftsgeist.
»Ah«, sagte er und wich zurück. »Hallo.«
»Wer ist da?«, fragte die Frau.
»Ein Herr«, antwortete er, ohne sich umzudrehen. »Sind Sie von der Polizei?«
»Nein, warum?«
»Na ja ...« Er musterte mich. »Nun, wegen vorhin halt. Als sie den Franzosen abgeknallt haben. Ich dachte. Wie Sie da mit den Bullen gesprochen haben. Als wenn Sie die kennen.«
»Du bist ein guter Beobachter.«
»Nun, wir reden eigentlich nicht mit denen. Wir gehen denen aus'm Weg.«
»Hast du den Typ gekannt?«
»Ich hab ihn fast gar nicht bemerkt. Aber die anderen sagen, sie haben ihn hier noch nie rumhängen sehen.«
»Dann hast du ja keinen Grund zur Besorgnis.«
»Nein.«
»Aber du dachtest, ich sei Bulle. Und du hast Angst. Gibt es dafür einen Grund?«
Die Frau erschien im Flur. Sie war nach europäischer Art gekleidet, an den Füßen trug sie Pantoffeln mit dicken roten Bommeln. »Worum gehts, Mourad?«
»Guten Abend, Madame«, sagte ich.
Mourad zog sich hinter seine Mutter zurück, blieb aber in Hörweite.
»Worum gehts?«, wiederholte sie, diesmal an mich gerichtet.
Sie hatte wunderschöne, schwarze Augen. Ihr ganzes Gesicht war hinreißend, umrahmt von dicken, lockigen, hennarot gefärbten Haaren. Knapp vierzig. Eine schöne Frau mit einigen Rundungen. Ich stellte sie mir zwanzig Jahre jünger vor und konnte mir ein Bild von Naïma machen. Guitou hat einen guten Geschmack, sagte ich mir mit einem Anflug von Bewunderung.
»Ich hätte gern Naïma gesprochen.«
Mourad trat wieder in den Vordergrund. Sein Blick hatte sich verfinstert. Er sah seine Mutter an. »Sie ist nicht da«, sagte sie.
»Kann ich einen Moment reinkommen?«
»Sie hat doch nichts angestellt?«
»Das wüsste ich auch gern.«
Sie legte zwei Finger aufs Herz.
»Lass ihn rein«, sagte Mourad. »Er ist kein Bulle.«
Bei Pfefferminztee leierte ich meine Geschichte herunter. Das ist nach zwanzig Uhr nicht gerade mein Lieblingsgetränk. Ich träumte von einem Glas Clos-Cassivet, einem Weißen mit Vanilleblume, den ich vor kurzem auf einem meiner Streifzüge durch das Hinterland entdeckt hatte.
Das tat ich normalerweise zu dieser Stunde: Ich saß auf meiner Terrasse mit Blick aufs Meer und trank voller Genuss und Hingabe. Dazu hörte ich Jazz. In letzter Zeit meistens Coltrane oder Miles Davis. Ich entdeckte sie gerade neu. An Abenden, an denen L oles Abwesenheit mir zu sehr aufs Gemüt schlug, hatte ich die alten Sketches of Spain wieder ausgegraben, ich spielte Saeta und Solei wieder und wieder. Die Musik entführte mich bis nach Sevilla-Dort wäre ich jetzt gern hingefahren. Aber dazu war ich zu stolz— Lole war gegangen. Sie würde wiederkommen. Sie war ein freier Mensch, und ich durfte ihr nicht hinterherlaufen. Das war natürlich die Logik eines Idioten, das war mir klar.
In meinem Wunsch, Naïmas Mutter zu überzeugen, spielte ich auf Alex an, den ich als einen »unerfreulichen Charakter« darstellte. Ich hatte erzählt, wie Guitou und Naïma sich kennen gelernt hatten. Über Guitous Flucht, dem aus der Kasse entwendeten Geld, seinem Schweigen seitdem und von der Besorgnis seiner Mutter ‒ meiner Cousine ‒ berichtet.
»Das verstehen Sie sicher«, meinte ich.
Madame Hamoudi verstand, aber sie antwortete mir nicht. Ihr französischer Wortschatz schien sich auf: »Ja, nein, vielleicht, ich weiß, weiß nicht«, zu beschränken. Mourad ließ mich nicht aus den Augen. Ich spürte ein Band der Sympathie zwischen uns. Dennoch blieb sein Gesicht verschlossen. Ich begann zu ahnen, dass alles nicht so einfach sein würde, wie ich es mir vorgestellt hatte.
»Mourad, es ist ernst, verstehst du.«
Er sah seine Mutter an, die ihre Hände fest auf dem Schoß um - klammert hielt. »Sprich mit ihm, Mama. Er will uns nichts Böses.«
Sie drehte sich zu ihrem Sohn, nahm ihn bei den Schultern und drückte ihn an ihre Brust. Als wenn ihr in diesem Moment jemand ihr Kind entreißen könnte. Aber wie ich später lernte, war es die Geste einer algerischen Frau, die sich das Recht nahm, mit der Einwilligung eines Mannes zu sprechen.
»Sie wohnt nicht mehr hier«, fing sie mit gesenkten Augen an. »Seit einer Woche. Sie lebt bei ihrem
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