Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Großvater. Seit Farid in Algerien ist.«
»Mein Vater«, präzisierte Mourad.
»Vor etwa zehn Tagen«, erzäh lte sie weiter, immer noch ohne m ich anzusehen, »haben die Islamisten das Dorf meines Mannes a ngegriffen. Um Jagdgewehre zu requirieren. Der Bruder meines Mannes lebt noch da unten. Was dort geschieht, beunruhigt u ns Also sagte Farid, ich werde meinen Bruder holen gehen.«
»Ich wusste nicht, wie wir zurechtkommen sollten«, fügte sie nach einem Schluck Tee hinzu, »denn viel Platz ist hier nicht Deshalb ist Naïma zu ihrem Großvater gezogen. Die beiden verstehen sich gut.« Sie fügte sehr schnell hinzu, und diesmal sah sie mir dabei in die Augen: »Nicht, dass sie es nicht gut bei uns hat, aber ... Nun ... Nur mit den Jungen ... Und dann ist da Redouane, Redouane ist der Älteste, er ist... wie soll ich sagen ... religiöser. Darum ist er dauernd hinter ihr her. Weil sie Hosen trägt, weil sie raucht, weil sie mit Freundinnen ausgeht...«
»Und weil sie französische Freunde hat«, unterbrach ich.
»Ein Roumi im Haus, nein, das geht wirklich nicht, Monsieur. Nicht für ein Mädchen. Das gehört sich nicht. Das ist Tradition, wie Farid sagt. Wenn wir nach Algerien zurückkehren, will er sich nicht anhören müssen: Du wolltest unbedingt nach Frankreich, und das hast du nun davon, es hat deine Kinder gefressen.«
»Im Moment sind es die Bärtigen, die eure Kinder fressen.« Ich bereute meine Direktheit sofort. Sie verstummte abrupt und sah sich bestürzt um. Ihr Blick wanderte wieder zu Mourad, der schweigend zuhörte. Er machte sich behutsam aus der Umarmung seiner Mutter los.
»Es steht mir nicht zu, darüber zu sprechen«, nahm sie den Faden wieder auf. »Wir sind Franzosen. Großvater hat im Krieg für Frankreich gekämpft. Er hat Marseille befreit. Mit dem algerischen Infanterieregiment. Er hat einen Orden dafür bekommen ...«
»Er war schwer verletzt«, fügte Mourad hinzu. »Am Bein.«
Die Befreiung von Marseille. Mein Vater hatte auch einen Orden erhalten. Eine Auszeichnung. Aber das alles war weit weg. Fünfzig Jahre. Geschichte aus grauer Vorzeit. Mir war nur die Erinnerung an die amerikanischen Soldaten auf der Canebière geblieben. Mit ihren Coladosen und ihren Päckchen Lucky Strike. Und die Mädchen, die sich ihnen für ein Paar Nylonstrümpfe an den Hals warfen. Die Befreier. Die Helden. Die blindwütigen Bombenangriffe auf die Stadt waren vergessen. Ebenso der ver zweifel te Sturmangriff der algerischen Infanteristen auf Notre-Oame-de-la-Garde, um die Deutschen zu vertreiben. Kanonenfutter, von französischen Offizie - ren dorthin befohlen.
Marseille hatte den Algeriern nie dafür gedankt. Frankreich auch nicht. Gleichzeitig unterdrückten andere französische Offiziere mit Gewalt die ersten Anzeichen einer Unabhängigkeitsbewegung in Algerien. Auch die Massaker von Serif, bei denen weder Frauen noch Kinder verschont wurden, waren vergessen ... Wenn es uns gelegen kommt, verfügen wir über ein sehr kurzes Gedächtnis ...
»Franzosen, aber auch Moslem s«, sprach sie weiter. »Früher g ing Farid in Cafés, trank Bier, spielte Domino. Damit hat er aufgehört. Jetzt betet er. Vielleicht wird er eines Tages den Hadsch, die Pilger - fahrt nach Mekka, machen. Das ist so bei uns, alles hat seine Zeit. Aber ... wir brauchen niemanden, der uns erzählt, was wir zu tun haben und was nicht. Die FIS macht uns Angst. Das sagt jedenfalls Farid.«
Diese Frau war voller Güte. Und raffiniert. Sie sprach jetzt sehr korrektes Französisch. Langsam. Sie legte Wert aufs Detail, ohne jedoch, als gute Orientalin, direkt auf den Punkt zu kommen. Sie hatte ihre eigene Meinung, verbarg sie aber hinter der ihres Mannes. Ich wollte sie nicht vor den Kopfstoßen, aber ich musste es wissen.
»Redouane hat sie rausgeschmissen, hab ich Recht?«
»Sie gehen jetzt besser«, sagte sie und stand auf. »Sie ist nicht hier. Und den jungen Mann, von dem Sie gesprochen haben, kenne ich nicht.«
»Ich muss mit ihrer Tochter sprechen«, sagte ich und erhob mich ebenfalls.
»Das geht nicht. Großvater hat kein Telefon.«
»Ich könnte hinfahren. Es wird nicht lange dauern. Ich muss mit ihr sprechen. Und vor allem mit Guitou. Seine Mutter macht sich Sorgen. Ich muss ihn zur Vernunft bringen. Ich will ihnen nichts tun. Und ...« Ich zögerte einen Moment: »Und es wird unter uns bleiben. Redouane brau cht nichts davon zu erfahren, si e können später darüber sprechen, wenn Ihr Mann zurück ist.«
»Er ist
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