Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
nicht mehr bei ihr«, mischte Mourad sich ein.
Seine Mutter sah ihn vorwurfsvoll an.
»Hast du dich mit deiner Schwester getroffen?«
»Er ist nicht mehr mit ihr zusammen. Er ist zurückgefahren, hat sie gesagt. Sie hätten sich gestritten.«
So ein Mist auch. Wenn das stimmte, dann musste Guitou irgend - wo in der Landschaft herumlaufen und seinen ersten Liebeskummer verdauen.
»Ich muss trotzdem mit ihr sprechen«, sagte ich zur Mutter. »Guitou ist noch immer nicht zu Hause angekommen. Ich muss ihn finden. Das müssen Sie doch verstehen«, fügte ich hinzu.
In ihren Augen lagen Panik und viel Zärtlichkeit. Und Fragen. Ihr Blick ging durch mich hindurch und verlor sich in der Ferne, als suche sie in mir eine mögliche Antwort. Oder eine Zusicherung. Für Immigranten ist Vertrauen fassen der schwierigste Schritt. Sie schloss die Augen für den Bruchteil einer Sekunde.
»Ich gehe sie beim Großvater besuchen. Morgen. Morgen früh. Rufen Sie mich gegen Mittag an. Wenn der Großvater einverstanden ist, wird Mourad Sie begleiten.« Sie ging zur Eingangstür. »Sie müssen jetzt gehen. Redouane kann jeden Moment zurückkommen, es ist seine Zeit.«
»Danke«, sagte ich. Ich sah Mourad an. »Wie alt bist du?«
»Fast sechzehn.«
»Mach weiter mit dem Basketball. Du bist verdammt gut.«
Als ich aus dem Haus trat, zündete ich mir eine Zigarette an und ging zu meinem Auto. In der Hoffnung, es unversehrt vorzufinden. OubaOuba beobachtete mich offensichtlich schon seit einer ganzen Weile. Denn er kam direkt auf mich zu, bevor ich den Parkplatz auch nur erreicht hatte. Wie ein Schatten. Schwarzes T-Shirt, schwarze Hosen. Und die dazu passende Rangermütze. »Hallo«, sagte er, ohne stehen zu bleiben. »Ich hab einen Tipp für dich.«
»Ich höre«, sagte ich, während ich ihm folgte.
»Der Céfran, den sie umgelegt haben, der soll überall rumge - schnüffelt haben. In den Vierteln Savine und Bricarde, überall ‒ vor allem in Plan d'Aou. Hie r bei uns wurde er zum ersten M al gesehen.«
Wir gingen weiter Seite an Seite an den Hausmauern entlang und plauderten wie zwei x-beliebige Passanten.
»Wie rumgeschnüffelt?«
»Er hat Fragen gestellt. Über die Jungen. Nur über die Rebeus.«
»Was für Fragen?«
»Wegen der Bärtigen.«
»Was weißt du?«
»Was ich dir sage.«
»Und was noch?«
»Der Keum, der die Kiste gefahren hat, den haben wir hier schon 'n paar mal gesehen, mit Redouane.«
»Redouane Hamoudi?«
»Da kommst du doch gerade her, oder?«
Wir waren einmal um den Block gegangen und näherten uns wieder dem Parkplatz und meinem Auto. Die Informationen waren am Versiegen.
»Warum erzählst du mir das alles?«
»Ich weiß, wer du bist. Ein paar Freunde auch. Und dass Serge ein Kumpel von dir war. Von früher. Als du noch Sheriff warst.« Er lächelte, und eine Mondsichel erhellte sein Gesicht. »Der Typ war in Ordnung. Er hat geholfen, heißt es. Du auch. Eine Menge Jungs sind dir was schuldig. Die Mütter wissen das. Du hast Kredit bei ihnen.«
»Wie heißt du eigentlich?«
»Anselme. Hab noch keine so große Dummheit angestellt, um bis aufs Kommissariat zu kommen.«
»Erzähl weiter.«
»Meine Alten sind okay. Das Glück haben nicht alle. Und dann Basketball ...« Er lächelte. »Und dann gibt es ja noch ckourmo. Weißt du, was das ist?«
Ich wusste es. »Chourmo«, auf provenzalisch »chiourme«, die Ruderer der Galeerenschiffe. Mit Galeeren und Knasten kannte man sich in Marseille aus. Es war nicht nötig, wie vor zweihundert Jahren, Vater und Mutter zu ermorden, um dort zu landen. Nein, heute reichte es, jung zu sein, Einwanderer oder nicht. Der Fanclub von Massilia Sound System, der ausgeflipptesten Gruppe von Raggamuffins, die es gab, hatte den Ausdruck aufgegriffen.
Inzwischen war chourmo ein lockerer Zusammenhang, in dem man sich traf, und eine Unterstützer-oder Fangruppe geworden. Sie waren etwa zweihundertfünfzig bis dreihundert und »unterstützten« mehrere Musikgruppen wie Massilia, Fabulous, Bouducon, Black Lions, Hypnotik, Wadada ... Zusammen hatten sie jüngst ein echtes Höllenalbum herausgebracht. Im Ragga Baletti. Da ging es hoch her am Samstagabend! Aioli!
Chourmo kümmerte sich um die Soundsysteme, und mit Hilfe der Einnahmen wurde eine Fanzeitschrift herausgegeben; man verteilte Kassetten mit Live-Aufnahmen und arrangierte günstige Reisen, um die Bands auf ihren Tourneen zu begleiten. Mit den Ultras, den Winners oder den Fanatics im Stadium rund um Olympique
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