Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Sie sprechen?«, fragte ich den Großvater.
Er nickte. Seine Lippen waren geschwollen. Sein Gesicht hatte eine violette, stellenweise blutrote Färbung angenommen. Der Mann, der ihn geschlagen hatte, trug einen gewaltigen Siegelring an der rech - ten Hand, erzählte er. Er hatte nur mit dieser einen Hand zuge - schlagen.
Das Gesicht des Großvaters kam mir vertraut vor. Ein ausgemergeltes Gesicht. Hohe Wangenknochen. Dicke Lippen. Lockiges, ergrautes Haar. So könnte mein Vater heute aussehen. Jung ‒ wie ich ihn von Fotos her kannte ‒ glich er einem Tunesier. »Wir k om - men alle aus dem gleichen Bauch«, hatte er gesagt. »Dem Mittel - meer. Daher haben wir zwangsläufig alle einen arabischen Ein - schlag«, antwortete er, wenn man ihn damit aufzog.
»Haben sie Naïma mitgenommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Als sie hereinkam, haben sie mir eins übergezogen. Sie kam aus der Schule. Sie hat sie überrascht. Sie hat einen Schrei ausgestoßen, und ich hab gesehen, wie sie weggelaufen ist. Einer ist hinter ihr hergerannt. Der andere hat mir mit voller Wucht auf die Nase geschlagen. Ich merkte, dass ich ohnmächtig wurde.«
In diesen Gassen hatte ein Auto keine Chance gegen ein laufendes Mädchen. Sie war wohl davongekommen. Für wie lange? Und wo mochte sie hingegangen sein? Das war eine andere Geschichte.
»Sie waren zu zweit?«
»Ja, hier jedenfalls. Einer hielt mich auf dem Stuhl fest. Der andere hat mir Fragen gestellt. Der mit dem Siegelring. Er hat mir die Medaille in den Mund gestopft. Wenn ich schreie, würde er sie mir in den Rachen schieben, hat er gesagt. Aber ich hab nicht geschrien. Ich hab nichts gesagt. Gott kann mich wiederhaben, verstehst du. Das Leben ist heutzutage nicht mehr lebenswert.«
»Was wollten die Typen wissen?«
»Ob Naïma jeden Abend hierher kam. Wo sie zur Schule geht. Ob ich weiß, wo sie Freitagabend war. Ob ich was von einem gewissen Guitou gehört hatte ... Wie dem auch sei, ich wusste nichts. Außer, dass sie hier bei mir wohnt ‒ ich weiß nicht mal, wo ihre Schule ist.«
Das bestätigte meine Befürchtungen. »Dann hat sie Ihnen nichts gesagt?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Als sie Samstag nach Hause gekommen ist ...«
»Wie spät war es da?«
»Ungefähr sieben. Ich war gerade aufgestanden. Und ich habe mich gewundert. Sie wollte erst Sonntagabend zurückkommen, hatte sie gesagt. Sie war ungekämmt. Ihr Blick war verängstigt, sie wirkte verstört. Dann hat sie sich da oben im Schlafzimmer eingeschlossen und sich den ganzen Tag nicht mehr sehen lassen. Abends hab ich an die Tür geklopft, um sie zum Essen zu rufen.
S ie wollte nicht. › Ich fühl mich nicht wohl ‹ , hat sie geantwortet. Später kam sie dann runter. Zum Telefonieren. Ich habe gefragt, was los ist. › Oh! Lass mich ‹ , hat sie gesagt. › Ich bitte dich! ‹ Nach einer Viertelstunde ist sie wiedergekommen. Und hochgegangen, ohne ein Wort zu sagen.
Am nächsten Morgen ist sie spät aufgestanden und zum Frühstück runtergekommen. Da war sie freundlicher. Sie entschuldigte sich für den letzten Abend. Ein Freund macht ihr Kummer, hat sie gesagt. Ein Junge, den sie sehr gern hatte. Aber dass es aus ist. Dass jetzt alles wieder gut ist. Und sie hat mir ganz rührend einen Kuss auf die Stirn gegeben. Ich hab ihr natürlich kein Wort geglaubt. Ihr war anzusehen, dass gar nichts gut war. Dass sie nicht die Wahrheit sagt. Ich wollte nicht grob zu ihr sein, verstehen Sie. Mir war klar, dass die Sache ernst war. Ich dachte an Liebeskummer. Der Freund und so weiter. Wehwehchen ihres Alters. Deshalb hab ich nur gesagt: › Wenn du darüber reden willst, ich bin da, einverstanden? ‹ Sie hat zaghaft gelächelt, sehen Sie. Ganz traurig. › Das ist lieb von dir, Großvater. Aber darüber besser nicht. ‹ Sie hätte fast geweint. Dann gab sie mir noch einen Kuss und ging wieder hoch ins Schlafzimmer.
Abends ist sie wieder zum Telefonieren runtergekommen. Dies - mal hat es länger gedauert als am Abend davor. Ziemlich lange sogar. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, weil sie nicht zurückkam, und bin auf den Bürgersteig rausgegangen, um nach ihr zu sehen. Sie hat so getan, als würde sie etwas essen, dann hat sie sich hingelegt. So, und Montag ist sie in die Schule gegangen und ...«
»Sie geht nicht mehr zur Schule«, unterbrach Mourad.
Wir starrten ihn alle drei an.
»Nicht mehr zur Schule!«, schrie seine Mutter fast.
»Sie hat keine Lust mehr. Sie ist zu traurig, hat sie gesagt.«
»Wann
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