Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Millionen Idioten, die bei dir auf - laufen. Ich schätze meine Ruhe, und die Freunde, die mir geblieben waren, kennen meine Telefonnummer. Notfälle hatte ich ganz einfach vergessen.
Serge war gestern da gewesen. Wegen Pavies Brief. So viel war sicher.
»Um wie viel Uhr?«
»Gegen halb drei. Er wirkte nervös. Wortkarg. Nicht ganz auf der Höhe. Sie haben einen Kaffee getrunken. Wie lange sie geblie ben sind? Eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. Sie sprachen leise, aber ich hatte den Eindruck, Serge schimpfte mit Pavie. Sie hielt den Kopf gesenkt wie ein Kind. Dann sah ich, wie Serge Luft ausblies. Als sei er erschöpft. Er ist aufgestanden, hat Pavie bei der Hand genommen, und sie sind gegangen.«
D as war es, was mir Kopfzerbrechen machte. Weil ich nicht eine Sekunde an Serges Auto gedacht hatte. Wie hätte er ohne Auto nach Bigotte kommen sollen? Nur Einwanderer fahren im Bus dorthin. Und selbst dann! Ich konnte mich im Moment nicht einmal daran erinnern, ob ein Bus bis dort oben hinfuhr oder ob man zu Fuß hinauflatschen musste!
»Hatte er seinen alten Ford Fiesta noch?«
»Aber ja.«
Ich konnte mich nicht erinnern, ihn auf dem Parkplatz gesehen zu haben. Aber ich erinnerte mich überhaupt nicht an viel. Außer an die Hand mit der Waffe. Und die Schüsse. Und Serge, der auf dem Pflaster zusammengesackt war, ohne sich vom Leben zu verab - schieden.
Sogar, ohne sich von Pavie zu verabschieden.
Denn sie war sicher dort, im Wagen. Ganz nah. Auch nah von mir. Pavie musste alles gesehen haben. Sie hatten das Balto zusammen verlassen. Richtung Bigotte, wo Serge eine Verabredung hatte. Bestimmt hatte er ihr versprochen, sie anschließend in die Klinik zu fahren. Danach. Und er hatte sie im Wagen sitzen lassen.
Sie hatte gewartet. Brav. Beruhigt, weil er endlich da war. Wie immer. Um sie ins Krankenhaus zu bringen. Um ihr wieder einmal zu helfen. Einen weiteren Schritt Richtung Hoffnung. Vielleicht den entscheidenden Schritt. Bestimmt den entscheidenden! Diesmal würde sie es schaffen. Sicher hatte Pavie daran geglaubt. Ja, da im Auto war ihr Glaube hart wie Stahl. Danach würde das Leben wiederkehren. Freunde. Arbeit. Liebe. Eine Liebe, die sie von Arno heilen würde. Ein gut aussehender Kerl mit einem hübschen Wagen und ein bisschen Knete. Und er würde ihr ein wunderschönes Baby machen.
Danach hatte es kein danach mehr gegeben.
Serge war tot. Und Pavie hatte sich dünn gemacht. Zu Fuß? Im Auto? Nein, sie hatte keinen Führerschein. Es sei denn. Vielleicht doch, inzwischen. Mein Gott! War dieser verdammte Wagen immer noch da oben? Und wo war Pavie jetzt?
Mourads Stimme unterbrach mein Gegrübel. Sein Ton überraschte mich. Traurig. »Das hat mein Vater früher auch gehört. Meine Mutter mochte es gern.«
»Warum? Hört er es nicht mehr?«
»Redouane sagt, es ist Sünde.«
»Der Sänger da? Lili Boniche?«
»Nein, die Musik. Dass Musik zu Alkohol, Zigaretten und Mädchen gehört. Zu all dem.«
»Aber du hörst Rap?«
»Nicht, wenn er da ist. Er ...«
Oh großer Gott, erbarme dich,
Lass mich meine Lieben sehen
und die Herzenspein vergehen ...
Jetzt sang Lili Boniche Alger, Alger. Mourad hüllte sich wieder in Schweigen. Ich fuhr um die Kirche von Saint-Henri herum. »Rechts«, sagte Mourad. »Dann die erste links.« Der Großvater wohnte in der Impasse des Roses. Hier gab es nur kleine ein-bis zweistöckige Häuser. Alle zum Meer ausgerichtet. Ich stellte den Motor ab.
»Sag mal, hast du zufällig einen alten Ford Fiesta auf dem Parkplatz gesehen? Blau ist er. Schmutzigblau.«
»Ich glaub nicht. Warum?«
»Nichts. Wir werden später sehen.«
Mourad klingelte einmal, zweimal, dreimal. Die Tür öf f nete sich nicht. »Vielleicht ist er ausgegangen«, sagte ich.
»Er geht nur zweimal die Woche aus. Auf den Markt.« Er sah mich besorgt an.
»Kennst du die Nachbarn?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ihn, ja, glaube ich. Ich ...«
Ich gin g die Straße runter bis zum nächsten Haus und klingelte ein paar Mal kurz. Nicht die Tür, sondern das Fenster ging auf. Hinter dem Gitter erschien ein Frauenkopf. Ein großer Kopf voller Locken - wickler.
»Was gibts?«
»Guten Tag, Madame«, sagte ich und näherte mich dem Fenster. »Ich wollte zu Monsieur Hamoudi. Sein Enkelsohn ist bei mir. Aber er macht nicht auf.«
»Das wundert mich. Heute Mittag haben wir noch im Garten mit - einander geplaudert. Später hält er immer seine kleine Siesta. Also, bei Gott, er muss da sein.«
»Vielleicht geht es
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