Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
wir unter deinem Wind stehen werden ...
Hatten sie Brauquier gelesen, die ganzen Technokrat en aus Paris? Und ihre Landschaf tsberater? Gabriel Audisio, hatten sie ihn gelesen? Oder Toursky? Gerald Neveu? Wussten sie, dass ein vereidigter Wiegemeister namens Jean Ballard hier 1943 die schönste Litera - turzeitschrift des Jahrhunderts ins Leben gerufen hatte und dass Marseille auf allen Schiffen und in allen Häfen dieser Welt mit den Cahiers du Sud mehr Einfluss ausstrahlte als mit dem Austausch von Waren?
»Um auf den Blödsinn zurückzukommen, den sie da schreiben«, fuhr Fonfon fort, »das kann ich dir erklären. Wenn sie anfangen, von großzügig angelegtem Stadtzentrum zu reden, kannst du sicher sein, dass das heißt: alles raus. Die große Säuberungsaktion. Araber, Komorer, Schwarze. Alles, was die Stadt befleckt. Auch die Arbeits - losen, die Armen ... Weg mit euch!«
Mein alter Freund Mavros, der sich mit einem Boxstudio auf den Höhen von Saint-Antoine über Wasser hielt, drückte es in etwa so aus: »Sobald einer von Großzügigkeit, Vertrauen und Ehre redet, musst du jederzeit damit rechnen, dass du, kaum blickst du über deine Schulter, einen Arschficker entdeckst, der dir den Hintern auf - reißen will.« Ich wollte das nicht wahrhaben und stritt mich jedes Mal mit Mavros darüber.
»Du übertreibst, Fonfon.«
»Klar. Außerdem, hier, schenk mir noch einen ein. Dann redest du nicht so 'n Stuss.«
Hélène Pessayre teilte meine Befürchtungen über die Zukunft des Hafens von Marseille.
»Ach, wissen Sie«, sagte sie, »der Süden, die Mittelmeerländer ... Wir haben keine Chance. Im Technokratenjargon gehören wir zu den › gefährlichen Klassen ‹ von morgen.«
Sie öffnete ihre Tasche und reichte mir ein Buch.
»Haben Sie das gelesen?«
Es war ein Werk von Sandra George und Fabrizio Sabelli. Kredite ohne Grenzen, die unheilige Religion der Weltbank.
»Interessant?«
»Höchst spannend. Darin wird ganz einfach erklärt, dass mit dem Ende des Kalten Krieges und den Bemühungen des Westens, den Ostblock zu integrieren – größtenteils auf Kosten der Dritten Welt –, der Mythos der gefährlichen Klassen auf den Süden und die Einwanderer aus dem Süden in den Norden verlagert wird.«
Wir hatten uns auf eine Steinbank gesetzt. Neben einen alten Araber, der allem Anschein nach schlief. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Weiter unten auf den Felsen saßen zwei Angler, Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger zweifellos, und wachten über ihre Schnur.
Vor uns: die Weite. Die blaue Unendlichkeit der Welt.
»Für Nordeuropa ist der Süden zwangsläufig chaotisch, radikal anders. Beunruhigend also. Ich denke, das heißt, ich stimme mit den Autoren dieses Buches darin überein, dass die nördlichen Staaten mit der Errichtung eines modernen Limes reagieren werden. Verstehen Sie, wie zur Erinnerung an die Grenze zwischen dem Römischen Reich und den Barbaren.«
Ich pfiff durch die Zähne. Ich war sicher, dass Fonfon und Mavros diese Frau mögen würden.
»Diese neue Welteinschätzung wird uns teuer zu stehen kommen. Mit › uns ‹ meine ich alle, die keine Arbeit mehr haben, die dicht an der Grenze zum Elend stehen und auch all die Jungs, all die aus den nördlichen Vierteln, aus den Armenvierteln, die die Innenstadt un - sicher machen.«
»Und ich dachte, ich bin Pessimist«, sagte ich lachend.
»Pessimismus nützt nichts, Montale. Diese neue Welt ist in sich abgeschlossen. Fertig, wohl geordnet, stabil. Und wir haben keinen Platz mehr darin. Ein neuer Gedanke macht sich stark. Jüdisch-christlich-hellenistisch-demokratisch. Mit einem neuen Mythos. Den neuen Barbaren. Uns. Und wir sind unzählig, undiszipliniert. Wie Nomaden. Außerdem wankelmütig, fanatisch, gewalttätig. Und nicht zu vergessen elend. Vernunft und Recht sind auf der anderen Seite der Grenze. Der Reichtum auch.«
Über ihre Augen senkte sich ein Schleier aus Traurigkeit. Sie zuckte die Schultern und stand auf. Die Hände in den Hosentaschen, ging sie bis zum Wasser. Dort blieb sie still stehen, den Blick am Horizont verloren. Ich stellte mich zu ihr. Sie zeigte in die Weite.
»Von dort bin ich das erste Mal nach Marseille gekommen. Über das Meer. Ich war sechs Jahre alt. Nie werde ich die Schönheit dieser Stadt in den frühen Morgenstunden vergessen. Algier werde ich auch nie vergessen. Aber ich bin nie dorthin zurückgekehrt. Kennen Sie Algier?«
»Nein. Ich bin nicht viel gereist.«
»Ich bin dort unten geboren.
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