Marsha Mellow
schon gewusst?«
»Was gewusst?«, flüstere ich.
»Dass dein Freund ein Homo ist?«
Ich könnte jetzt so reagieren wie immer: lügen wie gedruckt, indem ich bespielsweise antworte: »Um Himmels willen, Mum, ich habe es auch erst vor kurzem erfahren und bin genauso schockiert wie du. Gut, ich bin zwar nicht sofort losgestürzt, um ganz Manhattan mit schwulenfeindlichen Sprüchen vollzusprühen, aber ich habe vollstes Verständnis für deine Reaktion.«
Jedoch tue ich es dieses Mal nicht.
Vielmehr antworte ich: »Das weiß ich seit ungefähr zwölf Jahren.«
Trotz meiner panischen Angst habe ich ihr die Wahrheit gesagt, worüber ich genauso schockiert bin, wie sie verblüfft ist. Einen Moment lang findet keine von uns Worte. Schließlich sagt sie: »Seit zwölf Jahren, so so. Du hast es die ganze Zeit gewusst und es gewagt, ihn in mein Haus zu bringen, ihn an meinem Tisch sitzen zu lassen?«
»Es ist auch mein Haus, Charlotte«, wirft Dad zaghaft ein, der sein neues Ego ausprobiert, wobei er offenbar nicht sonderlich gut damit zurechtkommt.
»Sei still, Brian«, fährt sie ihn an. »Wie kannst du mir so etwas antun, Amy.«
Ihr Blick könnte nicht bekümmerter sein, hätte ich ihr ein rostiges Schwert in den Leib gerammt. Eigentlich müsste mir jetzt die Galle hochsteigen. Ich meine, wie scheinheilig ist diese Frau? Dieselbe Frau, die Hassparolen auf ein Kirchenportal schmiert und - was man keinesfalls vergessen darf - die es in den Rhododendronbüschen oder wo auch immer mit einem Scheißgärtner treibt, den sie gerade auf einer Blumenausstellung in Chelsea kennen gelernt hat. Dieselbe Frau, die die Frechheit besitzt, Dad eine Affäre zu unterstellen. Und jetzt macht sie mir Vorwürfe? Eigentlich sollte ich vor Wut kochen, was jedoch nicht der Fall ist. Stattdessen macht sich wie üblich mein schlechtes Gewissen bemerkbar. Obwohl ich an mich selbst appelliere, meine Wut endlich raus zu lassen, weil mir klar ist, dass mir jetzt nur noch blinde Wut (oder Drogen) helfen können, die Situation zu überstehen, tut sich gar nichts, und ich starre lediglich schuldbewusst wieder auf meine Schuhe.
»Und wie konntest du es zulassen, dass ausgerechnet so jemand Priester wird?«, klagt sie weiter und macht deutlich, dass ich nicht nur ihre Gefühle verletzt habe, sondern auch die Gottes. »Als gäbe es nicht schon genug Böses auf dieser Welt, da müssen sich solche Perversen nicht auch noch lustig machen über ...«
»Es gibt da noch etwas, das du wissen solltest«, unterbreche ich sie leise. Obwohl mir vor Angst die Knie schlottern bei dem Gedanken an das, was ich gleich sagen werde, kann ich mir ihre Tirade auf schwule Geistliche nicht mehr anhören. Ich hole tief Luft und verkünde: »Ant ist kein Priester.«
Ich ignoriere ihr entsetztes Schnaufen und Dads Erstickungsanfall, weil ich soeben Ant am Erkerfenster erspäht habe. Er steht direkt hinter Mum und starrt angestrengt durch die Gardinen in meine Richtung. Schon in der Schule hatte er ein unschlagbares Gespür dafür, im falschen Moment am falschen Ort aufzutauchen. Schön, dass er das nicht verloren hat. Bloß, was zum Teufel, hat er vor? Ist ihm nicht klar, dass sein Erscheinen hier ein todsicheres Blutbad auslösen wird? Wie kann er annehmen, hier irgendwie helfen zu können? Ich fuchtele ihm wild zu, dass er sich verziehen soll, bewirke damit allerdings, dass er die Nase nur noch fester gegen die Scheibe drückt, und, wie könnte es anders sein, prompt drehen sich mein Vater und meine Mutter in Richtung Fenster. Ant hat die Botschaft gerade noch rechtzeitig begriffen und geht in Deckung.
»Was gibt es da?«, will meine Mutter wissen.
Mir fällt keine passende Antwort ein, aber dafür springt Lisa ein. »Ach, da war so ein Typ am Fenster. Sah aus, als wollte der uns Doppelglasfenster andrehen.«
»Sei‘s drum«, entgegnet Mum knapp. Zurück zum Wesentlichen. »Warum hast du mir dann erzählt, dass er Priester ist? Warum belügst du deine eigene Mutter?«
»Weil sie Angst hatte, dir die Wahrheit zu sagen, Mum«, kommt Lisa mir erneut zu Hilfe.
»Wie meinst du das?«, fragt unsere Mutter.
»Nun, wie hättest du denn reagiert, wenn sie dir gesagt hätte, dass Ant ausgewandert ist, um in einer Schwulenbar zu arbeiten, die sich Seminar nennt?«
»Gut, ich hätte mich wohl aufgeregt, aber ich hätte bestimmt ...«
»Nun musst du aber auch ehrlich sein«, unterbricht Lisa sie. »Du hättest genauso reagiert wie gestern und wärst an die Decke gegangen.
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