Marsha Mellow
Amy hatte eben keine Lust auf den ganzen Stress und hat deshalb ... tja, gelogen.«
Mum wirkt vollkommen fassungslos. Als wäre es ihr neu, dass sie anderen Angst macht. Als wäre das Verschandeln von Kirchenportalen mit Graffiti für ein angesehenes Mitglied der Gemeinde etwas ganz Selbstverständliches und überhaupt nicht krank. Gleich darauf sagt sie mit tief betrübter, leiser Stimme: »Aber ich habe euch doch dazu erzogen, immer ehrlich zu sein ... Was hast du mir noch für Lügen aufgetischt?« Dabei sieht sie mich mit großen, traurigen Hundeaugen an, mit denen sie prima zu Spenden für den Tierschutz aufrufen könnte. Sie reitet auf der Mitleidsschiene, und, oh Wunder, es funktioniert, denn wieder einmal komme ich mir total erbärmlich vor. Lisa stupst mich von der Seite an - mein Zeichen, die Bombe zu zünden ...
Ich schaffe das nicht. Ich bin wie gelähmt.
Meine Mutter deutet mein Schweigen als sicheres Schuldeingeständnis, und schon stimmt sie ihre selbstmitleidige Litanei an, die ich mir schon tausend Mal anhören durfte und bei der ich jedes verdammte Mal nachgegeben habe.
»Ich war stets bemüht, das Richtige zu tun, euch sinnvolle Werte zu vermitteln, und jetzt schaut, was daraus geworden ist. Die eine Tochter will nach Hongkong abhauen, zusammen mit einem chinesischen Verbrecher, den sie uns nicht einmal vorzustellen wagt, und die andere kann der eigenen Mutter nicht einmal die Wahrheit...«
Sie hält inne, weil ein Telefon klingelt.
In meiner Jackentasche.
Mein Handy.
Ich krame es heraus und starre schweigend darauf, während es in meiner Handfläche weiter vibriert.
»Was ist, willst du nicht drangehen?«, stichelt meine Mutter. »Das ist wahrscheinlich dein abartiger Freund.«
Ich gehe dran.
»Habe ich das Beste schon verpasst?«, will mein abartiger Freund wissen.
Warum ruft er ausgerechnet jetzt an? Wo er sich doch in dem dämlichen Hortensienstrauch auch durch Schreien bemerkbar machen könnte.
»Das ist ...jetzt... kein ... guter Zeitpunkt«, gebe ich zurück - als wüsste er das nicht selbst.
»Hör mal, schon gut. Sag am besten gar nichts«, entgegnet er. »Aber falls sie ein Gewehr holt oder so, genügen drei Worte, um sie mundtot zu machen: Blumenausstellung in Chelsea.«
Die Verbindung wird unterbrochen.
»Doppelglasfenster«, murmle ich. »Ha ...«
Dad lächelt schwach, aber Mum hört gar nicht hin. Sie hat die Mail auf dem Couchtisch erspäht. Sie nimmt sie in die Hand und betrachtet das Bild, sieht der Wahrheit praktisch ins Gesicht.
Großartig, jetzt muss ich ihr gar nichts mehr gestehen, sie hat es bereits vor ihren Augen. Ich halte den Atem an, während ich darauf warte, dass sie entsetzt aufschreit... Was allerdings nicht geschieht, denn sie bemerkt bloß: »Es ist eine traurige Welt, in der wir leben. Was für Menschen lesen bloß so ein ...«
Während Mum sich kurz unterbricht, weil ihr kein passender Ausdruck für meinen Schund einfällt, verpasst Lisa mir erneut einen Stoß - dieses Mal vehement. Das ist definitiv das Zeichen für meinen Einsatz - das Drehbuch muss von Gott selbst stammen.
Aber ich bin nach wie vor nicht dazu fähig, und ich weiß schon gar nicht mehr, wo ich hinschauen soll. Mum kann ich nicht anschauen, und an ihr vorbei auf das Fenster starren kann ich auch nicht, weil Ant wieder aus den Büschen aufgetaucht ist und nun auch noch Lewis neben ihm steht. Das fehlt mir gerade noch - dass der neue Mann in meinem Leben von einem Logenplatz aus eine Folge von Die total kaputte Familie live miterlebt.
Das. Ist. Die Hölle. Und ich halte es nicht mehr aus.
Nicht nur mir geht es so, auch Lisa hat genug und reißt mich jetzt aus meinen Gedanken: »Hör mal, Amy, das ist doch albern. Sagst du es ihnen jetzt selbst, oder soll ich?«
Sie schenkt mir einen vermeintlich aufmunternden Blick, der jedoch in Wahrheit zu sagen scheint »Bitte, setz diesem Elend endlich ein Ende, damit wir damit abschließen können«.
»Worum geht es denn?«, fragt unser Vater schüchtern, der sich endlich aus seiner Deckung hervorwagt.
»Amy möchte euch sagen, dass ...«
»Ich mach das selbst, Lisa«, fahre ich dazwischen, nachdem ich endlich meine Stimme wiedergefunden habe. Lisa hat Recht. Ich muss dem ein Ende setzen. »Hört mal«, beginne ich zaghaft, »ihr werdet es vermutlich nicht glauben. Ich glaube es ja manchmal selbst nicht. Ich weiß, dass euch das nicht gefallen wird, aber als meine Eltern solltet ihr es wissen ...«
Scheiße, ich gerate ins
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