Marsha Mellow
dabei erwischt, wie ich durch den Glaseinsatz seiner Tür spähe. Ungeachtet dessen, was die paar Kollegen, die noch Überstunden schieben, von mir denken mögen, gehe ich auf die Knie und bewege mich auf allen vieren weiter. Ich habe schon fast das rettende Ufer erreicht, als plötzlich seine Tür aufgeht.
Ich erstarre augenblicklich.
»Geht es Ihnen gut, da unten?«, fragt Lewis.
»Äh ... prima, danke ... hab nur blöderweise eine von meinen Kontaktlinsen verloren.«
Was gelogen ist. Natürlich habe ich keine Kontaktlinse verloren. Wie auch? Ich sehe nämlich noch gut.
»Ich helfe Ihnen«, entgegnet Lewis und geht neben mir zu Boden. Ich habe mir durchaus schon mehrfach ausgemalt, Lewis auf den Knien zu sehen, allerdings komischerweise niemals unter solchen Umständen.
»Ah ... da ist sie ja!«, verkünde ich. Dann stupse ich mit dem Zeigefinger gegen eine Bodenkachel, wie ich es schon bei unzähligen Kontaktlinsenträgern beobachtet habe, und hebe ihn anschließend empor, wobei ich behutsam die imaginäre Linse auf der Fingerspitze balanciere.
»Mir ist völlig schleierhaft, wie Sie die entdeckt haben«, bemerkt Lewis. »Ich kann Sie ja nicht einmal jetzt auf Ihrem Finger sehen.«
»Reine Übungssache«, entgegne ich. »Das passiert mir ständig.«
Als Nächstes werfe ich den Kopf in den Nacken und ziehe mit der linken Hand meine Lider auseinander. Danach führe ich den Zeigefinger langsam an mein Gesicht heran ... und tupfe sachte gegen das Auge.
»Autsch!«, entfährt es mir, als ich mit dem Fingernagel meine Hornhaut streife. Jetzt tränt mein Auge wie verrückt.
»Lassen Sie mich mal einen Blick darauf werfen«, meint Lewis und rutscht auf den Knien in meine Richtung.
»Wirklich, es geht schon«, wehre ich ab und weiche ihm aus.
Beide richten wir uns auf, und ich sehe ihn verlegen an. In seinen Augen leuchtet kurz ein Ausdruck von Wärme auf. »Möchten Sie vielleicht...«, beginnt er, und ich kann es nicht verhindern, dass ich mir sofort ausmale, wie er mich in sein Büro bittet, um mir eine Reise auf eine einsame Insel in der Karibik vorzuschlagen - oder mich zumindest zum Essen einzuladen, die Karibikinsel können wir ja immer noch besuchen, wenn wir uns etwas besser kennen.
»... ein Papiertaschentuch für Ihre Wimperntusche? Die ist nämlich etwas verschmiert.«
Bleib auf dem Teppich, Amy. Als würde der jemals auf dich abfahren. Außerdem, nicht zu vergessen, ist da noch seine Ros.
»Wollten Sie gerade zu mir?«, fragt er und reicht mir ein Taschentuch.
»Ah ...ja ... nein ... schon ... Ich wollte Ihnen sagen, dass ich ... äh ... heute Abend keine Zeit habe.«
»Schade«, entgegnet er. »Ich bin nämlich sehr auf Ihre Meinung gespannt.«
»Tut mir Leid. Aber ich muss nach Hause. Mary kommt gleich.«
»Ihre Schwester?«
»Nein ...ja«, verhaspele ich mich, als mir meine Lüge von heute Morgen wieder einfällt. »Sie hat gerade eine Art Krise.«
Das entspricht der Wahrheit. Mary hat tatsächlich eine Krise. Als meine Agentin bekommt sie nämlich fünfzehn Prozent. Das bedeutet fünfzehn Prozent von allem, inklusive meiner Krisen.
KAPITEL 2
Ich sitze meinem Therapeuten gegenüber und ziehe nervös an einer Zigarette.
»Die Lösungen für Ihre Probleme liegen nicht in der Gegenwart. Wir kommen nur voran, indem wir zurückgehen «, sagt er bedächtig. »Wir müssen dem Auslöser für alles auf die Spur kommen. Was könnte das Ihrer Meinung nach sein, Amy?«
»Vielleicht... die allererste Amöbe am Ursprung der Schöpfung?«, schlage ich hoffnungsvoll vor.
»Was soll die Scheiße mit der Amöbe?«, poltert er los.
Menschenskind, jetzt erinnert er mich ein wenig an Tony Soprano ... Moment mal, das ist Tony Soprano. Ich dachte immer, der geht zum Therapeuten, statt selbst zu therapieren. Vielleicht hat er seinen alten Job ja an den Nagel gehängt - kann man nachvollziehen, zumal es ziemlich stressig sein muss, Anführer von diesem New Jersey Mob zu sein und gleichzeitig die Tücken des Familienlebens zu bewältigen.
Er reibt sich die Schläfen, um sich wieder zu sammeln. »Hören Sie, Herzchen, es tut mir Leid. Aber vergessen wir schleunigst das mit der Amöbe, hm? Und Scheiß auf diesen ganzen Freud‘schen Stuss mit Mein Chef reizt mich, weil ich einen Vater-Komplex habe ... Ich möchte mich nämlich mit Ihnen über Ihre Mutter unterhalten.«
»Muss das denn sein?«
»Mhm. Dies hier schimpft sich Therapie. Mütter sind ein zentrales Thema.«
»Na schön, und was soll ich mit
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