Marsha Mellow
nämlich nicht, dass Fußballer auch abends trainieren.«
»Vielleicht hat er ja Nachhilfe in Französisch«, schlage ich vor.
Eigentlich wollte ich sie damit trösten, aber Julie sieht mich abschätzig an, als würde ich gar nichts verstehen. Was mir auch egal ist - ich habe nämlich soeben eine E-Mail bekommen.
Amy - die Plauderei mit Ihnen war sehr aufschlussreich. Ich möchte Sie bitten, mir zu erläutern, was genau Sie unter »Müll« verstehen. Kommen Sie bitte zum Feierabend in mein Büro.
Das verheißt nichts Gutes. Entweder will Lewis mich zur Sau machen, weil ich seine Fähigkeiten als Chefredakteur kritisiert habe, oder er erwartet tatsächlich Anregungen von mir. Auf jeden Fall hat er nicht vor, mit mir auszugehen - schließlich gibt es da eine Ros, nicht wahr? Ich hoffe nur, dass er nicht irgendwelche Geistesblitze von mir erwartet. Bei all den Sorgen, die mich momentan beschäftigen, ist damit nämlich nicht zu rechnen.
»Sag uns deinen richtigen Namen, und wir lassen dich gehen.«
Obwohl man mich auf einer kalten Steinplatte festgebunden hat, sieht der Chefredakteur der Mail verstörend sexy aus in seiner schwarzen, engen Lederkluft. Er hält sich im Hintergrund des dunklen Kellerraums, während seine Reporterin auf mich zukommt und nebenbei in ihrer Handtasche kramt.
»Nur deinen Namen, mehr wollen wir gar nicht wissen. Danach kannst du nach Hause, ein Bad nehmen und fernsehen«, redet der Chefredakteur in ruhigem Ton weiter. »Also, warum kooperierst du nicht einfach mit uns, hm? Sieh dir die arme Mary an. Was hat der Starrsinn ihr gebracht?«
Ruckartig drehe ich den Kopf zur Seite, wo ein Leichnam neben mir liegt. Ich schaue auf die Stummel, wo ehemals Marys Finger waren, und auf ihre Leber, die man neben ihr ausgebreitet hat. Ich verrenke mir den Hals, als die Journalistin irgendetwas aus ihrer Handtasche zieht. Ein schwarzer, zylinderförmiger Gegenstand, ungefähr dreißig Zentimeter lang. Er sieht aus wie ein Lockenstab.
»Sie ist darin sehr geschickt, weißt du«, bemerkt der Chefredakteur. »Wir haben sie eigens in den Irak geschickt, damit sie bei den Meistern persönlich geschult wird.« Offenbar doch keine neue Frisur. »Führe es ihr doch einmal vor, Imelda.«
Daraufhin erscheint der Ansatz eines boshaften Lächelns im Gesicht der Reporterin, die gleich darauf auf einen kleinen Knopf seitlich an dem Zylinder drückt. Sofort springt ein metallener Schaft heraus, der fächerartig mehrere funkelnde Klingen ausfährt. Diese beginnen wild zu rotieren, mit einem hohen Surren wie der Bohrer beim Zahnarzt. Die Reporterin geht einen weiteren Schritt auf mich zu und ...
Ein Tagtraum. Mal wieder. Einer von mehreren Dutzend heute. Und zudem einer von der angenehmeren Sorte. Mittlerweile ist es sechs. Julie fährt gerade ihren PC herunter und fragt mich: »Lust auf einen Drink? Du siehst nämlich aus, als könntest du einen gebrauchen.« Offensichtlich hat sie nichts Besseres vor, nachdem ihr Date geplatzt ist. »Hey, wir könnten doch ins Pitcher & Piano gehen. Vielleicht treffen wir ja die Typen von dieser Werbeagentur.«
Julies bewährte Methode, um eine Abfuhr zu verschmerzen.
»Ich kann nicht«, entgegne ich und halte demonstrativ eine fettige Haarsträhne hoch - meine Haare dürsten nach Shampoo.
»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als den Abend zu Hause zu verbringen. Kann nicht schaden, mal früh ins Bett zu gehen«, bemerkt sie, als hätte sie soeben eine bittere Medizin geschluckt.
»Du wirst über ihn hinwegkommen«, tröste ich sie.
»Nein, ich werde ihn verdammt noch mal umbringen. Erst dann werde ich über ihn hinweg sein.«
Ich sehe ihr nach, als sie den Raum verlässt, und frage mich dabei, was die auftoupierten Haare, die künstlichen Fingernägel und die Sonnenbrille von Gucci (mitten im Winter, drinnen ...) sollen. Irgendwie riecht das nach Spielerfrau. Ich will ihr gerade nachgehen, als mir plötzlich Lewis einfällt. Verdammt. Ich habe auf seine E-Mail nicht geantwortet und bin jedes Mal, wenn er aus seinem Büro kam, hinter meinem Bildschirm in Tauchstellung gegangen. Aber jetzt muss ich an ihm vorbei, wenn ich hier heraus will.
Keine andere Chance, Amy. Augen zu und durch.
Genau. Okay. Dann mal los. Ich stehe auf, ziehe meine Jacke über und marschiere entschlossen in Richtung Fahrstuhl. In Höhe seines Büros bleibe ich kurz stehen. Vielleicht ist er ja nicht da, aber vielleicht ja doch, und ich werde es bestimmt nicht darauf anlegen, dass er mich
Weitere Kostenlose Bücher