Marshall McLuhan
wird man wiedergeboren (Diese Vorstellung fand Marshall lächerlich). Oder man landet in der Ewigkeit. Aber was wird dann aus der Welt, die man hinterlässt? Wie erklärt sich, dass, während man selbst in der Ewigkeit herumtreibt, die Welt selbst gerade mal ein ödes Fitzelchen Zukunft vor sich hat? Ewigkeit ist nicht Zukunft und vice versa. Auch wenn er das nie so formuliert hat, aus der Unvereinbarkeit der Welt mit dem Jenseits entstanden die Widersprüche, die einen Großteil von Marshalls Karriere bestimmen. Zum einen war die Technik ein Spielzeug angesichts der irdischen Mühsal. Sie verdiente nicht den Respekt, den man der Religion zuteil werden ließ. Zum anderen veränderte sie das Denken und die Gesellschaft. Man musste ihr genauso viel Beachtung schenken wie der Literatur. Diese Losgelöstheit vom Weltlichen verlieh ihm eine Objektivität, die andere Gesellschaftstheoretiker vermissen ließen. Sein Bewusstsein für das Alte und das Göttliche erlaubte ihm eine unsentimentale Sicht auf Technik und Kultur, sowohl auf die Moderne als auch auf ihre Zukunft. Die Welt war bloß die Welt. Deswegen suchte er nach Gemeinsamkeiten, wenn er zwei Epochen miteinander verglich, statt nur auf die Unterschiede zu achten. Denkt man dann noch an Marshalls angeborene Gabe, übergreifende Muster zu erkennen (von denen manche noch so undeutlich sind, dass sich seine Beobachtungen erst fünfzig Jahre später als zutreffend erweisen sollten), bekommt man allmählich ein Bild von ihm.
Das Neue Spektrum
Marshall legte zeitlebens eine gewisse Selbstvergessenheit an den Tag – er war der Inbegriff des zerstreuten Professors. Er konnte nicht Auto fahren und lebte umgeben von heillosem Durcheinander. Er stieg in Gespräche ein und schaltete dann plötzlich ab, egal ob mit Freunden oder Unbekannten, und lief im Unterricht geistesabwesend umher, offenbar ohne seine Umgebung wahrzunehmen. Viele seiner Zeitgenossen berichteten über ihre Zusammenkünfte mit Marshall, man habe ein paar Sekunden Zeit gehabt, um Hallo zu sagen oder irgendeinen Standpunkt zu äußern, dann sei er wieder auf seinen eigenen Planeten abgetaucht. Wohlgemerkt, die Rede ist von Selbstvergessenheit, nicht davon, dass er keinen blassen Schimmer gehabt hätte. Marshall hatte ein reiches Innenleben entwickelt. Warum es verlassen, wenn er es nicht musste?
Vielleicht kann man diese Abspaltung, wie auch andere von Marshalls Eigenschaften, auf dem Autismusspektrum ansiedeln. Das lässt sich im Übrigen für jeden Menschen behaupten. Autismus ist keine Entweder-oder-Diagnose mehr, sondern eine Frage der Verortung auf einem Spektrum, ähnlich wie bei Depression und Schizophrenie. Zum Beispiel reagierte Marshall überempfindlich auf laute, plötzliche und unerwünschte Geräusche. 9 Er mochte es nicht, in seinem Tagesablauf gestört zu werden. Und er mochte es nicht, wenn man ihn berührte oder versehentlich anstieß. Er stand auf Rituale. Er spielte gern mit Worten (Wortspiele sind eine Form von Enthemmtheit, die mit den Nervenleitungen im limbischen System des Gehirns zusammenhängt). Wie viele andere Schriftsteller auch, ob manisch oder nicht, erfreute sich Marshall an sogenannten
Klangassoziationen
. 10 Er war außerdem besessen davon, Worte auswendig zu lernen, und das obwohl er, wie wir wissen, vergesslich bis zur Selbstvergessenheit war – das machte ihn zwar nicht lebensunfähig, aber es beeinträchtigte ihn doch in seiner Fähigkeit, persönlich zu kommunizieren, was zumindest nicht gerade hilfreich war. Ältere Menschen empfanden seineGeistesabwesenheit als Arroganz, jüngere empfanden sie als cool.
Das soll nicht heißen, dass Marshall autistisch gewesen wäre oder auch nur am Asperger-Syndrom gelitten hätte. Aber wenn man seine Symptome als psychopathologisch hätte bezeichnen wollen, dann ginge es in diese Richtung. Depressiv war er nicht. Schizophren war er auch nicht. Er war weder alkoholsüchtig noch sonst etwas in der Art. Er war ein glücklicher Mann mit einer wunderbaren Familie und einer tollen Karriere, der zu einer kuriosen, aber auch schöpferischen Selbstvergessenheit neigte. Sein Biograph Philip Marchand schrieb:
Wenn er eine Schwäche hatte, dann war es seine Unfähigkeit, Menschen zuzuhören, die weniger eindringlich sprachen als er. Seine Stärke war es wiederum, unermüdlich zu reden, und zwar nicht nur in brillant formulierten Sätzen, sondern ganzen Absätzen – eine Kommunikationsform, die er dem Schreiben um Einiges
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