Marshall McLuhan
Religion. Er ging davon aus, dass Menschen, die sehen, das nicht an die große Glocke hängen. Sie sehen die Welt, und gut. So jedenfalls ging es ihm damit. Seine Weigerung, darüber zu sprechen, handelte ihm eine Menge Ärger ein. Manche Menschen empfanden das als Arroganz. Andere betrachteten es als Schwäche und Drückebergerei, oder als altmodisch und lächerlich. Und wieder andere sahen es als vertane Chance, weitere Anhänger zu rekrutieren.
Ich hätte es nicht gesehen, wenn ich es nicht geglaubt hätte.
M. M.
Die Gründung einer Clique
Genervt von den internen Machtkämpfen an der Universität, deprimiert von den mangelnden Geschichtskenntnissen der Studenten und begierig darauf, sein Leben katholischer zu gestalten, und zwar schnell, bewarb sich Marshall an der katholischen St. Louis University, wo der Leiter der literaturwissenschaftlichen Abteilung William McCabe ein ehemaliger Cambridge-Absolvent war und überraschend up to date, was den neuesten Stand auf dem Gebiet betraf. Marshall bekam eine Dozentenstelle und ein dreimal so hohes Gehalt wie in Wisconsin.
Kurz darauf, im Sommer 1937, verbrachte Marshall mit Elsie ein paar Wochen auf Vancouver Island. Am Ende der Reise fuhren sie gemeinsam mit dem Zug zurück in Richtung Osten – er bis Winnipeg, Elsie bis Toronto.
Nachdem Elsie und Herbert sich seit drei Jahren weder gesehen noch gesprochen hatten, verbrachten sie auf dem Bahnsteig in Winnipeg eine ganze höfliche Stunde miteinander. Danach stieg Elsie wieder in den Zug und verschwand.
Marshall verbrachte drei Wochen in seinem alten Zuhause, mit Herbert und ohne seinen Bruder, dann fuhr er weiter nach St. Louis.
Die St. Louis University war eine gute Wahl. Sie war 1818 gegründet worden und damit eine der ältesten Jesuitenhochschulen in Amerika. Ein etabliertes (wenn auch leicht baufälliges) Haus, das wunderbar zu Marshall passte: hundert Prozent männlich, rustikal und unmodisch. Sie folgte dem jesuitischen Ideal, demnach das Göttliche sich offenbaren kann (was später für Marshall von großer Bedeutung sein sollte) und die Doktrin der Kirche anhand von Sondierungen, Provokationen, offener Diskussion, Analysen, Debatten und Untersuchungen verbreitet werden darf – ungefähr das Gegenteil von Chestertons Ansicht, Religion müsse eine Liebesaffäre sein.
Schon bald lernte Marshall die Stadt und die Gesellschaft der anderen Lehrkräfte schätzen, von denen viele lebenslange Freunde und Mitstreiter wurden. Er fand eine Clique von Kollegen, mit denen er sich auf hohem intellektuellen Niveau und gleicher theologischer Ebene auseinandersetzen konnte. Neben Father William McCabe waren da Father Walter Ong, ein junger Jesuit und Schüler Marshalls, Bernard Muller-Thym, ein Philosophiedozent, der seinen Doktor am Päpstlichen Institut für Mediävistik der University of Toronto machte, und Felix Giovanelli, ein Sprachdozent, mit dem Marshall später zusammenarbeitete. Zusammen mit Tom Easterbrook, seinem alten Freund aus Manitoba, waren diese Männer die ersten Mitglieder von Marshalls Prototyp einer Warholschen Factory, und ihre Ideen spielten eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Medientheorie, die 1962 zum Ausbruch kam.
49° nördliche Breite
Damals kamen Amerikaner und Kanadier noch ungehindert über die Grenze. In England umgab Marshall der Reiz des Neuen, in St. Louis war ein Kanadier nichts Besonderes. Er sagte einmal, der Präriehimmel seiner Jugend habe ihn in die Zukunft sehen lassen, aber dieser Blick war eher geografischer als geopolitischer Natur. Es ist dennoch hilfreich, wenn man verstehen will, wie der junge Marshall Raum wahrnahm, in einem Land, wo jeder weit entfernt von allen anderen lebte, wo für jeden Weg Wetter, Dauer und eventuelle Unannehmlichkeiten berücksichtigt werden mussten. Wie er sich fragte, wo seine Mutter war, weit weg in der unendlich weiten Ebene, hinter dem nie endenden Horizont. Elsie, die Briefe schrieb, die in Leinentaschen gesteckt, in Zugwaggons verfrachtet und Tage später zugestellt wurden, und Marshall, der darüber nachdachte, wo sie herkamen. Schlechte, knisternde Telefonverbindungen, kratziger, begrenzter Funkempfang … und sonst nichts.
Man stelle sich vor, wie Marshall und andere Menschen damals wohl dachten, zum Beispiel über das Verhältnis von Entfernung und Geschwindigkeit. Eine Familie wurzelloser religiöser Tölpel, die ständig ihre Zelte abbrachen und von einem gottverlassener Flecken platten Landes zum nächsten zogen,
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