Marshall McLuhan
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Sondierungen
Voller intellektueller Energie aus seinen Seminaren und der Arbeit an der Zeitschrift fing Marshall an, sogenannte
Sondierungen
zu entwickeln, zwanglose Gespräche, bei denen Ideen ohne moralische Wertung in die Arena geworfen wurden und dort ausgefochten werden durften, mit dem Ziel, wiederum neue Ideen hervorzubringen. Mittlerweile war es eine bewusste Strategie, keinerlei moralische Haltung oder Wertung zu haben. Moral behindert häufig das freie Denken. Moralische Entrüstung ist ein Alibi für Menschen, die etwas nicht verstehen können oder wollen. Wieder der Mahlstrom: Verstehe die Welt um dich herum und löse dich von ihr, oder du gehst unter. Man kann die Welt verstehen, es ist nur die Informationsflut, die einen das Gegenteil glauben lässt. Suche nach Mustern. Kehre deine Vorurteile um. Diskutiere den Standpunkt der anderen Seite – nur belasse es nicht beim ersten Eindruck. Marshall sagte: »Ignoranz hat immer einen Grund«. Ein hungernder Äthiopier mag da anderer Meinung sein, aber was Marshall meint, ist, dass wir eine Welt brauchen, in der zumindest jeder vom hungernden Äthiopier bis zum schwedischen König versteht, dass er die Möglichkeit, das Werkzeug und die Verantwortung hat, seine Welt zu begreifen und sie womöglich verändern zu können.
Der größte Schritt in dieser Zeit war Marshalls zunehmend genaue Definition von dem, was wir
Raum
nennen. In unserer Kultur ist Raum das, was wir um uns herum sehen. Wir haben gelernt, nicht in Klang-, Geruchs- oder ähnlichen Landschaften zu denken. Was zählt ist, was man sieht. Aber das war nicht immer so. Marshall nahm an, dass bis zur Verbindung von phonetischem Alphabet, Papier und Druckerpresse die Menschen ihre Umwelt hauptsächlich über den Klang wahrnahmen, das Visuelle spielte längst nicht so eine große Rolle. Das mag einem seltsam vorkommen (zumal wir die Welt ja jeden Tag rund um die Uhr sehen), aber Marshall ging es nicht nur darum, wie wirRauminhalt wahrnehmen, sondern auch auf welche Weise wir diesen Inhalt erleben. Das ist ein vielleicht spitzfindiger, aber wesentlicher Unterschied. Der Hörsinn war vor fünfhundert Jahren weitaus wichtiger als heute.
Die Vorstellung davon, wie der Körper das Universum empfindet – die Phänomenologie des Raumes –, führt uns zurück zum Thema Autismus. Fakt ist: Marshall hasste es, angefasst oder versehentlich angestoßen zu werden, er hasste plötzlichen Lärm oder Störgeräusche, und er liebte Wörter, sie zu wiederholen, mit ihnen zu spielen. In den sechziger Jahren nahm er es seinen Mitmenschen übel, wenn sie ihn fragten, wie es ihm ginge – er schrieb das dem Informationsoverkill zu, dem er ausgesetzt war. Aber noch mal, vieles an Marshalls Verhalten spricht dafür, ihn am unauffälligen Ende des Autismusspektrums anzusiedeln. Man kann sich leicht vorstellen, dass ein Mensch, der sensorisch so empfindlich ist, interessiert daran ist, diesen Zustand zu erforschen. Marshalls lebenslange Forschungen können zum Teil als bewusste oder unbewusste Versuche angesehen werden, sich mit dem Kopf und dem Körper, mit denen er geboren wurde, zu versöhnen.
Das Leben auf Erden
Die späten fünfziger Jahre waren intellektuell gesehen wahrscheinlich die spannendste Zeit in Marshalls Leben. Neue Ideen knisterten wie Skalarwellen durch seinen Kopf. Die Menschen wurden zu schnell mit zu viel Technologie gefüttert, und er wusste das. Gefiel ihm das? Nein! Er hasste, verabscheute und verachtete es. Kurzzeitig hatte er die Hoffnung, die neuen Technologien könnten die Welt verbessern – aber mit dem Ende des Jahrzehnts begrub er sie schnell wieder. Ab den sechziger Jahren war die Welt dank Umweltverschmutzung und Technologisierung für Marshall unrettbar verloren, er sehntesich nach einer anderen Zeit, einem anderen Zeitstrom, einem anderen Universum – irgendetwas, das anders war als Amerikas boomende Butter-und-Kanonen-Strategie. Wie der Mann je als Technik-Guru wahrgenommen werden konnte, ist ein Rätsel. Nicht dass ihn das in irgendeiner Hinsicht auf seiner Suche nach neuen Ideen aufgehalten hätte.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Marshalls weitreichende Erkenntnisse über die neuen Medien ergaben sich daraus, dass: (1) er seine Doktorarbeit über Thomas Nashe schrieb, einen unbekannten Verfasser von Flugschriften aus dem sechzehnten Jahrhundert; (2) seine Mutter ihn in Rhetorik unterrichtete; (3) sein Gehirn auf
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