Marshall McLuhan
ungewöhnliche Weise vernetzt war; (4) zwei Arterien statt nur einer sein Gehirn mit Blut versorgten; (5) er zum Glauben fand; (6) er in der kanadischen Prärie aufwuchs; (7) er besessen von Dagwood Bumstead war; (8) er James-Joyce-Experte war. Zu diesen und vielen anderen Faktoren kommt hinzu: (9) Im Jahr 1959 erhielt er den Auftrag, ein Unterrichtsprogramm für amerikanische Elftklässler zu erstellen, in dem es um die Auswirkungen neuer elektronischer Medien ging – nicht um ihren Inhalt, sondern ihre Grammatik und ihre »
verändernde Kraft
«. Der Auftrag und die damit verbundenen $ 15 000 stammten von der National Association of Educational Broadcasters (einer bundesweiten Vereinigung der Schulsender) und dem amerikanischen Bildungsministerium. Das Angebot kam nicht unerwartet.
Explorations
hatte eine feste Leserschaft, und der Name McLuhan sprach sich inzwischen herum. Der Damm war noch nicht gebrochen, aber lecken tat er bereits. Das Geld von der NAEB ermöglichte es Marshall, ein Forschungsjahr einzulegen und einen wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie eine Vollzeitsekretärin, Margaret Stewart, anzustellen.
Das NAEB-Projekt lebte von dem Gedankengut aus den Ford-Seminaren und der Zeitschrift
Explorations
und stellte für Marshall einen notwendigen Brennpunkt dar, in dem er seine überall verstreuten Ideen bündeln konnte. Indirekt arbeiteten sie am Entwurf einer einheitlichen Kulturtheorie. Wenn das nicht aufregend war!
Und da er es mit Elftklässlern zu tun hatte, begab er sich gezwungenermaßen auf das unbekannte Terrain einer postindustriellen Gehirnlandschaft. Statt sich mit verstaubten alten Köpfen herumschlagen zu müssen, bekam er taufrisches, vom Fernsehen geformtes Material serviert. Indem er sich mit den Auswirkungen von unter anderem Fernsehen, Radio und Telefon beschäftigte, musste er unbedingt auch deren physische Komponente mit einbeziehen. Das war ein entscheidender Schritt zur Verknüpfung wissenschaftlicher und künstlerischer Aspekte. Jeder, der einmal an einer Telefonkonferenz teilgenommen hat, weiß, wie dabei jede Freude, Leben und Sauerstoff aus dem Raum entweichen. Und wer schon einmal ein Nickerchen gehalten hat, während im Hintergrund der Fernseher oder das Radio lief, weiß, wie dadurch bestimmte Denkprozesse vorübergehend ausgeschaltet werden können.
Marshall hielt seine Entdeckungen für so wesentlich und folgenreich, dass er beschloss, mit einer Reihe von Experten aus allen möglichen Bereichen zusammenzuarbeiten, vor allem aber Ingenieuren. Seiner Meinung nach sind es natürliche Prozesse, die bestimmen, inwiefern ein Medium selbst zur Botschaft wird. Kathodenstrahlröhren von Fernsehgeräten projizieren direkt auf die Netzhaut. Ein Gemälde reflektiert Licht. Elektrisches Licht strahlt auf die Netzhaut, enthält aber keine Information. Und so weiter. Abgesehen davon, dass er später zutiefst überzeugt von den unterschiedlichen Rollen der beiden Gehirnhälften und ihrer gegenseitigen Vervollständigung war, vertiefte er sich seltsamerweise nie in die Neuroanatomie. Begriffe wie Depression oder Asperger-Syndrom kamen erst eineinhalb Generationenspäter zum Tragen. Es war die Zeit der frontalen Lobotomie, einer Welt ohne Kernspintomographie, als das Gehirn noch ein rätselhafter beigefarbener Pudding war. Was hätte Marshall wohl alles mit Prozac, Wellbutrin, Abilify oder Paxil angestellt? Da jedoch die spezifischen Funktionen der einzelnen Hirnrinden, Knoten und Regionen noch nicht ausreichend erforscht waren, führte um 1958 der einzige Weg über die Fantasie. Um die von ihm entdeckten Mechanismen zu beschreiben, fing Marshall an, eine Reihe von Regeln und Gesetzen zu entwickeln, und prägte dabei Begriffe wie
heiß
und
kalt
, bzw.
hoch definiert
und
niedrig definiert
. Der Ursprung der meisten seiner späteren Äußerungen über die Auswirkungen von Medien steckte in diesem NAEB-Report.
Marshalls erster Entwurf war im Juni 1960 abgeschlossen, und das endgültige Dokument mit dem Titel
Report on Project in Understanding New Media
wurde noch im selben Jahr veröffentlicht. Man hätte gern Mäuschen gespielt, als die NAEB den Bericht öffnete und einen ersten Blick darauf warf – die entgleisten Mienen! Die ratlosen Blicke! Es ehrt die NAEB, dass sie die Genialität des Reports erkannten, da er jedoch mit dem Leben und Denken eines Elftklässlers rein gar nichts zu tun hatte, war er praktisch unbrauchbar. Die verwirrenden Diagramme, die Esoterik, alles zusammengehalten
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