Marshall McLuhan
Studenten unter Wasserfällen von Ideen begrub – die er nicht selten erst im selben Moment entwickelte. Seine Kurse platzten aus allen Nähten. Er war kein Exhibitionist. Es war nur so, dass gewisse Wesenszüge und Denkmechanismen erst vor einem Publikum zur Entfaltung kamen. Laut und in Echtzeit zu denken, vor einem Publikum oder einer Gruppe von Studenten als Katalysator, spornte ihn an. Konversation nannte er das. 20
Nach einer Weile stellten die Studenten fest, dass Marshalls Unterricht eine spezielle Herangehensweise erforderte. Am besten war es, man ging einfach hin, hörte ihm zu und ließ sich von seinen Worten inspirieren. Es gab keinen offiziellen Themenkatalog, den man abhaken konnte. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Mannes lag darin, offen und unvoreingenommen zu sein – locker zu lassen – und sich ganz auf seine Gedankenwelt einzulassen. Man musste nicht allem zustimmen, man musste nicht mal alles verstehen (einiges ist vielleicht tatsächlich gar nicht nachvollziehbar), die Hauptsache war, dass durch seinen seltsam bürokratischen Rhythmus und seine Überpräzision das eigene Denken entfacht wurde.
Der Wendepunkt
1952 wurde Marshalls sechstes und letztes Kind geboren, ein Junge. Marshall übernahm außerdem einen Lehrstuhl an der University of Toronto. Während dieser Zeit war er besessen von der Idee, Geheimbünde hätten sich gegen ihn verschworen, um seine Publikationen zu verhindern und so seinen Erfolg zu unterbinden. Diesem Glauben wurde der Boden entzogen, als er 1953 von der Abteilung für Verhaltensforschung der Ford Foundation ein Stipendium erhielt. Marshall und sein geistiger Sparringspartner, der etwas deftige Anthropologe Edmund »Ted« Carpenter, bekamen $ 44250 – damals eine beachtliche Summe.
Moment – ein Anthropologe und ein Englischprofessor? Genau. Ihre Aufgabe bestand darin, eine Reihe von interdisziplinären Kommunikationsseminaren abzuhalten. Heutzutage finden solche Seminare an jeder Volkshochschule statt, aber 1953 galtenfachübergreifende Studien als gewagt und fragwürdig. Im Amerika der Nachkriegszeit ging es darum, das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Technologie neu auszuhandeln. Spezialisierung lautete das Zauberwort. Warum Gedankenwelten kreuzen? Warum den Fokus erweitern, wenn überall das Gegenteil gewünscht war?
McLuhan und Carpenter hatten vor, auf Innis’ Vorstellungen davon aufzubauen, wie ein Medium die Umgebung beeinflusst, in der es agiert. Wie bereits erwähnt hatte das Fernsehen seinen Siegeszug angetreten, und die Menschen spürten den Wandel förmlich in der Luft knistern, aber es gab weder Worte noch Theorien, um ihn zu beschreiben oder zu analysieren. Die Ford Foundation wollte neue Methoden entwickeln, diese neue Welt zu bestimmen, und Marshall kam da gerade richtig.
Als interdisziplinäre Partner wählte er seinen Freund Tom Easterbrook, mit dem er zusammen in England gewesen war und der inzwischen Professor für Wirtschaftslehre der U of T war, den Psychologieprofessor Carl Williams und eine Architekturprofessorin und Stadtplanerin namens Jacqueline Tyrwhitt – eine Freundin von Sigfried Giedion und eine der wenigen Frauen, die Zutritt zu Marshalls akademischem Universum hatten. 21
Die Seminare schlugen sofort ein, mit ihnen begann Marshalls Aufstieg zum Super-Marshall der Sechziger. Er hatte ein wissbegieriges, aufgewecktes Publikum, mit dem er seine Ideen weiterentwickeln konnte. An der Universität bekam man allmählich mit, dass dort etwas vor sich ging. Kollegen von anderen Fakultäten kamen in seine Seminare. Innis’ Werk wurde unter die Lupe genommen, und Marshall und andere Seminarteilnehmer erforschten auf neuen Wegen, wie unterschiedliche Medien unsere Sinne auf unterschiedliche Weise beeinflussten.Vor allem aber konzentrierte sich Marshall auf die Verlagerung des Fokus zwischen visuellem und akustischem Raum – das war schließlich der Startschuss zu seinem 1962 veröffentlichten Erfolgsbuch
The Gutenberg Galaxy
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Das Aufregende an den Ford-Seminaren war, dass eine Entdeckung die nächste auslöste. Plötzlich konnte man die gesamte Kultur (oder auch alle Kulturen) als technisches Medium begreifen: Fernsehen, Radio, Film sowie sämtliche Formen von gedruckten Informationen – Karten, Bibeln, Sprachen, Manuskripte – alles. Voilá! In jenem Jahr 1953 entstand in Toronto eine Mediensprache, die später als Torontoer Schule für Kommunikationstheorie bezeichnet wurde, ausgelöst durch die Einführung des
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