Marshall McLuhan
Flug acht Kilometer über Saskatoon. Warum sollte es bei einem Buch, einem Fernsehbildschirm oder einem Fax von einem Grabsteinabdruck etwas anderes sein?
Ein Loch in der Welt
Dem Jahrzehnt bis zu Marshalls Tod am 31. Dezember 1980 muss man sich mit innerer Größe nähern. Alt zu sein bedeutet unter anderem schlicht, nicht mehr jung zu sein, und was früher als anders und fortschrittlich an einem galt, kann sich später gegen einen wenden. Zu seinen wichtigsten Erkenntnissen kam Marshall in den frühen Sechzigern. Es folgten noch diverse kleinere Geistesblitze, aber mit den großen Themen war es vorbei. Marshalls Gehirn, das von Geburt an anders gewesen war, hatte über die Jahrzehnte diverse Traumata erlitten: Schlaganfälle, Absencen, einen riesigen Tumor, maximal-invasive Gehirnchirurgie sowie einen kurzen, durch einen Herzinfarkt ausgelösten Sauerstoffmangel. Der Mann musste einfach müde und verwirrt sein – nicht nur wegen der Zeit, in der er lebte (oder wegen seiner Reaktion auf sie), sondern wegen seines Körpers. Marshall trieb weder Sport noch achtete er auf seine Ernährung. Wir reden von einem Mann, der seinen ersten Job in Wisconsin damit feierte, dass er sich ein Steak kaufte.
Um 1975 war dann ein Punkt erreicht, an dem, hätte es Marshall McLuhan nicht gegeben, genug andere Leute da gewesen wären, die sein Gebiet beackerten. Das soll nicht sein Genie schmälern. Wäre Einstein nicht geboren worden, hätte jemand anders die Relativitätstheorie aufgestellt – vielleicht ein oder zwei Jahrzehnte später, aber entdeckt worden wäre sie.
Selbst im Vollbesitz seiner Kräfte wäre Marshall aufgrund seines Lebens und seiner Erfahrungen vielleicht nicht in der Lage gewesen, weltliche Kulturtheorien wie die der Franzosen zu entwickeln: Derrida, Foucault, Lacan, Baudrillard – die Marshallmit ihrem Denken quasi überholten. Seine Bedeutung für die Gesellschaft verblasste.
Aber man kann das auch von einem anderen Blickwinkel aus betrachten, vom Standpunkt der Kunst aus. Wären Marcel Duchamp oder Andy Warhol nicht geboren worden, wäre die Welt um Einiges ärmer. Ohne Picasso hätten vielleicht ein paar Leute ein paar Bilder mit irgendwelchen würfelartigen Figuren gemalt, aber wahrscheinlich hätte es keinen Kubismus in all seiner Mannigfaltigkeit gegeben. Da wäre ein Loch in der Welt. Wenn man einen bestimmten Aspekt im Leben betrachtet, der einem langweilig erscheint, kann man sich im Allgemeinen fragen,
Wer war das wohl, der da nie geboren wurde
?
Anatomiestunde
Ein tiefer Einschnitt trennt das menschliche Gehirn in zwei Hälften (Hemisphären), die durch einen Nervenstrang, den Corpus callosum, miteinander verbunden sind. Die Populär-Psychologie trifft häufig grobe, pseudowissenschaftliche Verallgemeinerungen über die Aufteilung bestimmter Funktionen (z.B. Logik, Kreativität) auf die rechte und linke Gehirnhälfte. Forscher kritisieren dies, da die Funktionen oft auf beide Seiten verteilt sind.
Die Lateralisation der Gehirnfunktionen zeigt sich im Phänomen der Rechts- oder Linkshändigkeit und dem bevorzugten Hören auf dem rechten oder linken Ohr, wobei die Händigkeit nicht darauf hinweist, in welcher Hälfte eine Gehirnfunktion ausgeführt wird. Obwohl sich bei rund 95 % der Rechtshänder eine Dominanz der Sprachproduktion in der linken Gehirnhälfte feststellen lässt, liegt sie nur bei 18,8 der Linkshänder in der rechten Hälfte. Darüber hinaus ist bei 19,8 % der Linkshänder die Sprachfunktion auf beide Gehirnhälften verteilt. Selbst innerhalb bestimmter Sprachfunktionen (z.B. Semantik, Syntax, Prosodie) können sich Grad der Dominanz und auch die Zuordnung selbst unterscheiden.
Links, Rechts, Links, Rechts …
Vielleicht aufgrund seiner eigenen neurologischen Probleme widmete sich Marshall Mitte bis Ende der siebziger Jahre derHemisphärentheorie – der Lateralisation der Gehirnfunktionen – kurz gesagt, linke Hälfte versus rechte Hälfte.
LINKS = VISUELL
RECHTS = AKUSTISCH
LINKS = RAUM
RECHTS = SEQUENZEN
Das Hemisphärenmodell war in den siebziger Jahren neu, es war der Zeitpunkt in der Geschichte der Neuroanatomie, als die Gehirnwissenschaftler aus dem Wasser kamen, aufs Land krabbelten, atmen lernten und sich entwickelten. Die Lobotomie war erst seit kurzem geächtet, aber Prozac war noch ein Jahrzehnt weit entfernt. Neue nicht-invasive Methoden der Gehirnforschung wurden entwickelt, bei denen das Gehirn weder klein gehackt noch zu Forschungs-Smoothies
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