Martha Argerich
die Vorstellung von Seeigel in Sahnesauce ausgelöst. 1967 hatte Martha in Paris an der Konzertreihe »Piano****« mitgewirkt, die von André Furno in der juristischen Fakultät der
Pariser Universität Panthéon-Assas auf die Beine gestellt worden war. Die freizügige Atmosphäre, die von Politik und Literatur geprägt war, gefiel ihr. Zahlreiche Pianisten kamen nach dem Konzert auf sie zu, um mit ihr zu sprechen. Unter ihren Kollegen mochte sie die Ungarin Annie Fischer besonders gern, die spontan war, immer originell und es nicht ertragen konnte, die Werke, die sie gerade spielte, in der Interpretation eines anderen zu hören. Sie rauchte so viel, dass man ihr in den Kulissen eine angesteckte Zigarette hinhalten musste, damit sie zwischen den Stücken ihres Recitals drei Züge nehmen konnte. Martha verstand sich auch gut mit Emil Gilels, der sie nach ihrem Berliner Auftritt mit Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 aufsuchte, um ihr seine Glückwünsche auszusprechen. »Sie spielen anders als die Russen. Ihre Interpretation ist sehr eigen, aber sie gefällt mir.« Ihr Kontakt zu Swjatoslaw Richter war ebenfalls herzlich. Sie fuhr mit der Métro zu einem seiner Auftritte in einem Pariser Vorort, zusammen mit György Sándor, einem Schüler Bartóks und Herausgeber seines Gesamtwerks für Klavier. »Eine echte Lehrstunde!«, sagte Sándor nach dem Konzert zu seinem Kollegen. »Ein echtes Vergnügen wäre mir lieber gewesen«, erwiderte Richter in seinem üblichen leicht pikierten Ton. Martha empfand tiefe Bewunderung für den Älteren, doch sie war sich nie sicher, ob es umgekehrt genauso war.
* Ein italienischer Journalist hatte sogar mal die Frage gestellt, ob sie nicht vielleicht Celibidaches Tochter sei.
Ihre Begegnung mit Arthur Rubinstein war dafür umso erhebender. Die beiden Künstler trafen an einem Tisch in einem Restaurant in Amsterdam aufeinander. Er kam von einem Auftritt im Concertgebouw und aß allein zu Abend. Die Pianistin sollte am nächsten Tag ein Recital in Den Haag geben. Rubinstein ging hin, um sie zu hören, und brachte sie anschließend in seinem Auto ins Hotel zurück. »Sie erinnern mich an Horowitz«, erklärte er ihr, ohne dass sie hätte sagen können, ob dies als Kompliment gemeint war. Als sie erfuhr, dass er nur ihretwegen die Fahrt von Amsterdam nach Den Haag unternommen hatte, war sie überwältigt vor Rührung.
2003 kaufte Martha sich einen Zweitwohnsitz in Paris, in der Rue de Chaillot im XVI . Arrondissement, direkt neben ihrem Freund Nelson Freire. Ein sehr besonderes kleines Haus, das sich in einem Innenhof zwischen zwei riesigen Gebäudekomplexen befindet. Im Erdgeschoss gibt es eine große Wohnküche. Links steht ein Yamaha-Stutzflügel aus der Silent-Serie (mit Kopfhörer), der ihr erlaubt, auch nachts zu spielen, ohne die Nachbarn zu stören. Das Klavier ist übersät mit Noten, CD s, DVD s, teils noch ungeöffneten Geschenken, diversen Trophäen, Fotos, Briefen von Bewunderern, Blumensträußen, Bonbons … Der Nachdruck eines berühmten Gemäldes, das den jungen Franz Liszt zeigt, ist mit Tesafilm an der Wand über dem Notenständer angeklebt, wie bei einem Teenager. Rechts stehen der Esstisch und ein prall gefüllter Kühlschrank: Fruchtsäfte, Bündner Fleisch, Milchprodukte, Taboulé von einem Libanesen aus der Nachbarschaft und das Dessert mit dem leichten Apfelsinengeschmack, das sie so sehr liebt … Im Spülbecken stapelt sich dreckiges Geschirr. Auf dem Sofa liegen weitere Noten, noch in Zellophan verpackt. Im oberen Stockwerk im Schlafzimmer befinden sich ein Bett voller Stofftiere, die alle einen Namen haben, ein Fernseher und ein Stapel DVD s, die nie in der richtigen Hülle stecken. Weiter hinten liegt das Bad, das genauso groß ist wie das Schlafzimmer und von unzähligen Cremetöpfen, Schönheitsmittelchen, Salben und sonstigen Tuben nur so wimmelt. Das Licht ist immer angeschaltet, die Haustür selten verschlossen.
Sie hat sich diesen kleinen Pariser Hafen geleistet, weil ihr Brüsseler Domizil dermaßen übervölkert war von fremden Leuten, dass sie sich kaum mehr nach Hause traute. Die Pianisten, um die sie sich aufopfernd gekümmert hatte, waren fordernd geworden, tyrannisch. »Ich habe die Nase voll von diesen jungen Menschen. Ab jetzt beschäftige ich mich nur noch mit alten Leuten!« Das ist übrigens ihre neueste Idee: einen Altersruhesitz für pensionierte Künstler aufzumachen, wie Verdi ihn in Mailand für seine Sänger eingerichtet hatte.
Ivry
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