Martha Argerich
Festivalgesellschaft, hatte sich während Caciques Krankheit sehr um ihn gekümmert. Martha wollte sich bei ihm bedanken, indem sie ihn zum Vorsitzenden einer Stiftung ernannte, die sie im Gedenken an ihren Bruder gegründet hatte. Doch nach und nach geriet die Stiftung immer mehr in einen Schlingerkurs. Die Krise, die Angst vor plötzlicher Armut weckten überall Begehrlichkeiten. Martha hatte eine Menge Geld investiert …
Die Pianistin wollte noch mehr für ihre gebeutelte Heimat tun. Alan Kwiek schlug ihr vor, auch mal in den abgelegeneren Teilen Argentiniens aufzutreten. Das war die Gelegenheit, ihre Heimat wirklich kennenzulernen, Menschen zu treffen, die sonst nie mit Musik in Berührung kamen. Arthur Rubinstein war einst zwei Monate in Argentinien herumgereist und hatte in sämtlichen Städten gespielt. Warum nicht ihn zum Vorbild nehmen und das Sprichwort »Gott ist überall, doch arbeiten tut er nur in Buenos Aires« Lügen strafen? Zusammen mit dem Geiger Geza Hosszu-Legocky begab sich Martha auf eine kleine Kammermusiktournee, die sie nach Salta, Mendoza und Córdoba führte. 2004 wurde die Tournee erweitert. Sie spielte Prokofjews Klavierkonzert Nr. 1 und das G-Dur-Konzert von Ravel mit den Orchestern vor Ort. Die Pianisten Gabriela Montero und Mauricio Vallina waren Teil der Truppe. Irgendwann führte die Tournee sie auch nach San Salvador de Jujuy, einer 400 000-Einwohner-Stadt
an der Grenze zu Bolivien mit einem charmanten kleinen
Logentheater, das im letzten Jahrhundert von einem reichen Musikliebhaber gestiftet worden war. Der erste Teil des Abends gehörte einem Kinderorchester aus San Salvador de Jujuy, das mit seinem musikalischen Leiter Sergio Jurado Haydns Klavierkonzert D-Dur eingeübt hatte. Alan hatte sich bezüglich der Besetzung des Klavierparts sehr bedeckt gehalten. Martha, so hieß es, würde erst zum zweiten Teil des Abends hinzust0ßen. Der Dirigent und die Kinder waren schon heillos entzückt, überhaupt mit der berühmten argentinischen Pianistin zusammenzutreffen und an ihrem Konzert teilhaben zu dürfen; nie im Leben hätten sie gewagt, sich die Überraschung auszumalen, die sie nun erwartete. Nachdem Alan die Musiker miteinander bekanntgemacht hatte, stellte er alle Beteiligten vor vollendete Tatsachen: »Ach übrigens, ihr werdet den Haydn zusammen spielen.« Die Pianistin, die es hasst, in letzter Minute überrumpelt zu werden, ließ sich auf den Spaß ein. Für San Salvador de Jujuy war dieses Ereignis von enormer Bedeutung. Die ganze Zeit während der Proben war Martha äußerst liebenswürdig, aufmerksam, geduldig, neugierig auf alles. Beim Konzert selbst legte sie eine solch vitale Energie an den Tag, dass das Publikum und die Musiker sie wohl nie mehr vergessen werden. Laut Alan Kwiek handelte es sich an jenem Abend nicht nur um Musik auf höchstem Niveau, die alle dazu brachte, über sich selbst hinauszuwachsen, sondern um »Liebe im Reinzustand«.
Jahr für Jahr hört sich Martha die jungen Talente an, die aus Argentinien zu ihr kommen. 2002 war sie besonders berührt vom Spiel des damals dreizehnjährigen Adriel Gomez Mansur, der bei Carmen Scalcione in die Lehre gegangen war. Ein merkwürdiger Junge, äußerst verschlossen, aber mit einer sehr natürlichen Technik und erstaunlichen musikalischen Reife. Es war nicht einmal seine Kunst, die es Martha so angetan hatte – wie etwa bei Evgeny Kissin oder dem Geiger Geza Hosszu-Legocky. Nein, sie fühlte sich einfach verantwortlich für dieses Talent, das sie da gerade entdeckt hatte, und wollte dazu beitragen, dass sich das große Potenzial des Jungen entfalten konnte. Adriels Vater hatte die Familie verlassen, sodass er nur mit seiner Mutter zusammenlebte, die von der ganzen Situation offenbar überfordert war. Allein auf ihr gutes Herz hörend, bezahlte Martha die Flugtickets und schlug Mutter und Sohn vor, zu ihr nach Brüssel zu ziehen. Der Wechsel des Lebensumfelds war mit
Sicherheit zu brutal und der Druck zu groß für die zarten Schultern des Knaben. Martha lud Adriel nach Beppu und nach Lugano ein, er sollte an ihrem gemischten Konzertprogramm teilnehmen, doch jedes Mal weigerte er sich zu spielen. Die Mutter kassierte dennoch die vereinbarte Gage, die man nicht wagte ihr zu verweigern. Wurde der junge Pianist von irgendwelchen Ängsten gequält? War er verärgert, weil er kein eigenes Recital bekommen hatte? Es war unmöglich, Näheres in Erfahrung zu bringen. Martha wollte verstehen, was ihn quälte, sie hatte
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