Martha Argerich
Bauch. Sie hätte es gern gesehen, dass sich zwischen ihm und ihrer Tochter Stéphanie eine zarte Romanze entsponnen hätte, um sozusagen in der Verlängerung an dem Abenteuer teilzuhaben. Doch der Funke sprang nicht über.
Der Bassbariton Bryn Terfel und der Dirigent Yannick Nézet-Séguin, die in der Salle Pleyel aufgetreten waren, mischten sich unter die Gruppe. Vor den entzückten Restaurantbesuchern
dirigierte Chung für Terfel mit seiner Gabel die ersten Takte des »Libera me« aus Faurés Requiem . Als Martha kam, wie immer zu spät, konnte Jacques Thélen seine Rührung endgültig nicht mehr verhehlen. Er kümmert sich zwar erst seit dreizehn Jahren um ihre Belange, aber seine Gedanken sind stets bei ihr. Er verbringt einen Großteil seiner Zeit in irgendwelchen Flugzeugen, um sie spielen zu hören, sie zu unterstützen, ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Vertraulichkeiten zu haben und ihre Koffer zu tragen. Er organisiert nicht nur ihre Auftritte, sondern erledigt auch ihre Geldangelegenheiten. Als er ihr seinerzeit seine Dienste anbot, hatte sie erwidert, sie möge keine Agenten. Aber am Ende nahm sie sein Angebot doch an, weil sie spürte, dass er ihr ein echter Freund sein würde. Sie hatte ihn allerdings gewarnt: »Ich bin beileibe kein Geschenk des Himmels! Es gibt viele offene Fragen, ich beantworte sie nie, ich unterzeichne keine Verträge und sage ständig meine Auftritte ab.«
Man kann Marthas Karriere nicht planen wie die eines anderen Künstlers. Am besten vereinbart man ihre Auftritte und Reisen hinter ihrem Rücken, wohl wissend, dass sie weder gern auftritt noch gern verreist. »Ich höre lieber zu«, sagt sie. Einer ihrer ehemaligen Agenten meinte einmal: »Martha hat alles dafür getan, ihre Karriere zu ruinieren, aber es ist ihr nie gelungen.« Sie schlug die Einladung der Wiener Philharmoniker aus, sagte Berlin ab, brüskierte Chicago, vergaß New York … Sie hat immer eine neue Chance bekommen. Hin und wieder muss
Jacques Thélen regelrechte Kriegslisten entwickeln, um ihr neue Terminzusagen abzuringen, denn Charles Dutoit wird allmählich ungeduldig, das Los Angeles Philharmonic Orchestra wartet auf Antwort … Er kommt zu ihr nach Hause, schwätzt und albert ein wenig mit ihr herum und versucht den richtigen Moment abzupassen, um mit seinen Plänen herauszurücken. Doch die Pianistin, die kommen sieht, was er vorhat, wird wütend und ruft: »Lass mich in Ruhe mit deinem verdammten Business!« Enttäuscht packt er seine Sachen wieder zusammen. Also wird er es beim nächsten Besuch noch einmal probieren müssen. Bei ihr weiß man nie, keiner vermag vorherzusehen, wann bei ihr der richtige Moment gekommen ist.
Nach Dutzenden vergeblicher Kontaktversuche schaffte es der Filmemacher Frédéric Rossif endlich, ihr die Zusage zu einer TV-Reportage zu entlocken. Am Tag des Drehs kam die Pianistin nicht aus dem Haus, während vor ihrer Tür die Kameraleute auf sie warteten. Das Team musste sich vier Tage lang gedulden. Hatte sie Angst? Oder einen dicken Pickel auf der Nase,
wie kolportiert wurde? Am vierten Tag öffnete sie strahlend ihre Haustür: Zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens fand die Aufnahme endlich statt. Martha sperrt sich, und am Ende gibt sie meistens nach. Sie hört auf ihren Instinkt. Er allein leitet sie. Wenn es zwei Lösungen für sie gibt, sucht sie verzweifelt nach einem dritten Weg. Mit den Klavieren ist es das Gleiche. Wenn man ihr einen einzigen Flügel präsentiert, spielt sie problemlos auf diesem. Aber wehe, sie hat die Wahl zwischen zwei Instrumenten! Dann öffnet sich vor ihr ein Abgrund des Zweifels. »Mach dich doch nicht so zur Sklavin deiner eigenen Unsicherheit!«, hatte ihr einst Sergiu Celibidache geraten. Das hat sie tief beeindruckt. Der große rumänische Dirigent, der sie von seinem Aussehen her an ihren Vater erinnerte,* hatte sie in Paris aufgesucht, um mit ihr zusammen Schumanns Klavierkonzert aufzuführen. Er wollte ständig das Tempo drosseln, während Martha ihrer Intuition folgte, die sie zu schnellerem Spielen anhielt. Jeder tat, was er meinte tun zu müssen. Am Ende der Probe sagte Stephen Kovacevich zu seiner Freundin: »Ihr scheint mir zwei völlig verschiedene Stücke zu spielen.« Am Tag des Konzerts hielt sich Martha mehr zurück. Celibidache drehte sich mit einem breiten Lächeln zu ihr um: »Ah, das ist gut, endlich lässt du dich erweichen!« Ein Kritiker schrieb, das Aufeinandertreffen der beiden Ausnahmekünstler habe bei ihm
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