Martha Argerich
einer Beethoven-Sonate. Dann wandte er sich an sie: »Ich bin mir nicht ganz sicher wegen des Tempos. Was meinst du?« Geschmeichelt, dass ein Künstler, den sie bewunderte, sie als »Kollegin« behandelte, fühlte Martha sich gleich viel sicherer und vergaß ihre Minderwertigkeitskomplexe. Ein freundschaftliches, unprätentiöses Gespräch entspann sich. »Und jetzt bist du dran!«, forderte der Pianist schließlich listig. Zutraulich geworden, setzte sie sich ans Klavier, um Bach und Schubert zu spielen. Gulda war genauso fasziniert wie Jean-Jacques Rousseau angesichts der Musik der »Edlen Wilden«. Eine noch jungfräuliche Persönlichkeit, eine Kinderwahrheit, eine Ahnung von »Natur pur«! Am Moskauer Konservatorium muss Heinrich Neuhaus eine ähnliche Erfahrung gemacht haben, als er den zweiundzwanzigjährigen Swjatoslaw Richter erstmals hörte:
einen Quertreiber, frisch aus Odessa gekommen, einen Spieler aus dem Bauch heraus, der jedem Klischee widersprach. Nur dass Martha Argerich erst zwölf Jahre alt war. Und dass Gulda keine Schüler annahm. Schon ihr Schubert gefiel ihm außerordentlich gut, doch als sie dann das Italienische Konzert von Bach spielte, verlor der Österreicher die Contenance: »Mensch, Argerich! Ich glaube, wir sind vom gleichen Schlag!«
Wie wahr! »Ich habe mit Sicherheit etwas von seiner Art zu spielen übernommen«, sagt sie heute. »Sogar ohne mit ihm zu arbeiten, stand ich extrem unter dem Einfluss seiner Ästhetik.« Auch andere junge Pianisten spielten an dem Tag für Friedrich Gulda. Seine Anmerkungen waren jedes Mal sehr zutreffend, ohne Vorurteile, voller Humor. Ein junger Mann wollte von ihm wissen, ob seine Technik gut sei. (In Argentinien spielt Technik eine große Rolle!) Gulda entgegnete: »Magst du, was du da tust? Gefällt es dir?« Der Junge antwortete: »Äh … ja.« – »Also«, schlussfolgerte Gulda, »also hast du eine wunderbare Technik!«
Jedes Publikum neigt dazu, Taschenspielertricks mit einer guten Technik zu verwechseln. Technik ist nichts anderes als das Mittel, gewisse Schwierigkeiten zu überwinden, um das selbst gesteckte Ziel zu erreichen. Je höher das ästhetische Ideal, desto ausgefeilter muss die Technik sein. Für Martha, die eine natürliche Begabung für das Klavierspiel hat, ist die Suche nach technischer Perfektion noch nie vom musikalischen Ausdruck zu trennen gewesen und hängt direkt mit dem Erzeugen von Klangfülle zusammen. Wie bei einem Maler, der seine Palette immer wieder nach einer ganz bestimmten, noch unentdeckten Farbnuance absucht, um der Pupille seines Porträtierten einen besonderen Ausdruck zu verleihen und zugleich die bis dato eher missachtete Handhaltung zu betonen, wodurch die Szene eine zusätzliche Bedeutung erlangt.
Am Ende der »Unterrichtsstunde« nahm Gulda Martha zur Seite: »Wenn du nach Wien kommst, kümmere ich mich um dich!« Was sollte das bedeuten? Gulda hatte keine Dozentur an der Wiener Musikakademie, und er pflegte keine Privatschüler anzunehmen. Davon einmal abgesehen: Wie sollte ein zwölfjähriges Mädchen einfach so nach Wien kommen? Vielleicht dachte Gulda, ein solches Naturtalent wie Martha liefe bei ihm weniger Gefahr, zwischen den akademischen Mühlen zerrieben zu werden – eben weil er kein Klavierprofessor war. Bei ihm würde dieses hübsche Pflänzchen in einem höchst nährstoffreichen musikalischen Gewässer baden können … Aber dennoch blieb das Ganze nicht ohne Risiko. »Bist du verliebt, Argerich?«, fragte er noch. Sich mit einem blutenden Herzen zu belasten kam nun wirklich nicht für ihn in Frage. Ihre Antwort beruhigte ihn. »Später habe ich mich dann natürlich doch verliebt«, erklärt sie heute lachend. »In ihn – in wen denn sonst?«
Ein paar Monate später, im Juli 1954, bekam Martha einen Brief aus Salzburg, der mit »Friedrich Gulda« unterschrieben war: Er habe gerade seinen ersten Meisterkurs im Rahmen der Internationalen Sommerakademie am Mozarteum hinter sich gebracht, der ein rechter Erfolg gewesen sei. Wenn es ihr also gelingen sollte, ihre Eltern zu überreden – er erwarte sie.
Seit diesem Moment dachte Martha an nichts anderes mehr als an Wien und Gulda. Alles erschien ihr fade und blass ohne ihn. Im Übrigen spielte sie keine einzige Note mehr für Amacarelli, ihren Lehrer, der ihr in der Tat auch nichts mehr beibringen konnte. Juanita ihrerseits spürte sehr wohl, dass der Moment gekommen war, der Provinzialität Argentiniens den Rücken zu kehren. Anders als
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