Martha Argerich
Kissin zu erkennen. Martha war bei dieser Entdeckung wie vor den Kopf geschlagen. Der gleiche Ausdruck von Schwermut und geistiger Abwesenheit, von altersloser Reife, androgynem Charme!
In Wien sollte sie rundherum glücklich werden. Gulda gab ihr Energie, Anregungen, Lebensmut. Ob sie irgendwann jene Verse von Rimbaud mit ihrer damaligen Situation in Zusammenhang brachte:
» J’ai fait la magique étude
Du bonheur, qu’aucun n’élude.«
»Ich forschte nach dem Zauberzeichen
Des Glücks, dem niemand kann entweichen.«*
* Arthur Rimbaud, O Zeiten, o Schlösser/Ô saisons, ô châteaux . Gedichte (französisch/deutsch). Werke, Band 2. Deutsch von Thomas Eichhorn, Rimbaud Verlag, Aachen 1992.
Ihre Eltern hatten eine Wohnung in der Dominikanerbastei im 1. Bezirk gefunden. Später zogen sie an den Brahmsplatz. Martha belegte Theorieunterricht an der Wiener Musikhochschule und nahm ein-, zweimal pro Woche Privatstunden bei Gulda. Sie sprachen eine Mischung aus Deutsch und Spanisch miteinander und verstanden sich prächtig. Eine »pan-romanische« Sprache, laut Gulda. Wenn ihm die Worte fehlten, erfand er welche. Einmal, als er ihr eine Ausdrucksnuance erklären wollte, sprang er plötzlich auf, nahm seine Schülerin bei der Hand und zog sie mit sich ins Badezimmer. Er drehte den Wasserhahn voll auf, benetzte sich das Gesicht und erklärte ihr tropfend: »Spiel das so!«
Es ist nicht einfach auszumachen, was Gulda Martha beigebracht hat. Ihr Verhältnis war kein typisches Lehrer-Schüler-Verhältnis, eher waren sie wie zwei Wissenschaftler, die gemeinsam forschen und sich gegenseitig in ihrer Suche beflügeln. Der Pianistin Karin Merle zufolge, Marthas bester Freundin in Wien, war Gulda ein wahrer Segen für sie. Sie hatte unter Scaramuzza eine hervorragende Technik erworben. Eine gute Grundlage, allerdings mit einem sehr eng gesteckten Rahmen. Gulda erweiterte ihren Horizont und half ihr dabei, sich aus ihren Ketten zu befreien. Sehr viel vertrauter als Scaramuzza mit der Wiener Klassik, zeigte er seiner jungen Kollegin, wo bei Haydn oder auch bei dem frühen Beethoven der Humor zu finden war. Die argentinische Pianistin war begeistert: Eine neue Welt eröffnete sich ihr.
Im Sommer 1955 begleitete sie ihren Mentor zu seiner zweiten Meisterklasse im Mozarteum nach Salzburg. Martha spielte das Klavierkonzert Nr. 1 von Beethoven und vergnügte sich damit, all die »komischen« Passagen dieses Werks herauszumodellieren, das sie seit ihrem achten Lebensjahr so genau kannte und in dem sie noch heute immer wieder neue Akzente entdeckt, neue Lichter, neue Klänge. Aus ihrer Sicht »erschöpft sich eine Komposition niemals; nur die Interpreten, die ihre Noten mechanisch herunterklimpern, sind irgendwann erschöpft«. Als sie Gulda das Klavierkonzert Nr. 2 von Beethoven spielen hörte (das vor dem ersten geschrieben, aber erst danach veröffentlicht worden war), beschloss sie, es ebenfalls in ihr Repertoire aufzunehmen, bis es dann zu einem ihrer Flaggschiffe wurde. Aus irgendwelchen Gründen, die mit ihren inneren Ansprüchen zusammenhängen müssen und angesichts ihrer technischen Mög-
lichkeiten kaum zu verstehen sind, hat Martha Beethovens Klavierkonzerte Nr. 3 und Nr. 5 (auch bekannt als Emperor ) bis heute nur sehr selten gespielt.
Während ihres Salzburger Aufenthalts lernte sie Claudio Abbado kennen, der damals, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, noch Pianist war und dessen Entwicklung zu einem der größten Dirigenten seiner Zeit noch bevorstand. Er hatte sich die schwierige Solopartie des Klavierkonzerts Nr. 2 B-Dur von Johannes Brahms vorgenommen und suchte jemanden, der den Orchesterpart auf dem zweiten Klavier spielte. Gulda nannte ihm Martha, die die »Degradierung« auf Anhieb durchschaute. Doch die Mu-
siker verstanden sich in jeder Hinsicht prächtig, und als der Italiener noch ein paar zusätzliche Stunden bei Gulda nehmen wollte, vergewisserte sich dieser in einer Mischung aus Zartgefühl und Humor bei Martha, ob sie das auch nicht unangebracht finde.
Was die drei miteinander verbunden hat? Die gemeinsame Liebe zu Claude Debussy. Gulda hatte den französischen Komponisten über sein Prélude à l’après-midi d’un faune für sich entdeckt. Er spielte das Prélude , indem er Klanglichter in unterschiedlicher Intensität darauf warf, die einer ihm eigenen Poetik folgten. Claudio Abbado seinerseits entschied sich für die Dirigentenlaufbahn, nachdem er Debussys Nocturnes gehört hatte, und er
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