Martha Argerich
Aires, um in mehreren Auftritten die zweiunddreißig Beethoven-Sonaten darzubieten. Diese Hunderttausende von Noten hatten sich in seinem Gedächtnis und in seinen Fingern eingebrannt, indem er pro Tag einen Satz eingeübt hatte. »Der gebildetste Mensch, den ich je kennengelernt habe«, so Martha Argerich heute. Gulda war in der Lage, selbst die komplizierteste Partitur beim erstmaligen Durchspielen technisch perfekt und musikalisch auf höchstem Niveau zu interpretieren. Martha war zehn Jahre alt, als sie ihn zum ersten Mal hörte, und war sofort verzaubert von seiner modernen Sichtweise des klassischen Repertoires. Entgegen den damaligen Gepflogenheiten spielte Gulda beispielsweise »männliche« und »weibliche« Themen innerhalb einer Komposition exakt im selben Tempo. In klassischen Sonaten werden vom Komponisten in der Regel zwei Themen nacheinander vorgestellt, die er anschließend entwickelt, um sie dann erneut aufzunehmen. Das eine dieser beiden Themen ist zumeist besonders dramatisch oder zumindest sehr rhythmisch (»männlich«), während das andere eher zart und
lyrisch ist (»weiblich«). Die Romantiker unter den Pianisten neigen dazu, das Tempo zu verlangsamen, sobald das »weibliche« Thema an der Reihe ist. Gulda indes behielt rigoros dasselbe Tempo bei, was seine Kritiker dazu veranlasste, sein Spiel als »trocken« oder »gefühllos« zu bezeichnen. Für ihn lag die Verschiedenheit der beiden Themen in ihrem eigentlichen Wesen begründet; seiner Ansicht nach ging es nicht darum, der Komposition einen »persönlichen« Stempel aufzudrücken, indem auf stereotype Weise die Besonderheit einer musikalischen Idee betont wurde. Die »Weiblichkeit« wurde durch kaum wahrnehmbare Nuancen hergestellt, durch eine besonders feinnervige Dynamik und nicht durch eine Veränderung des Pulsschlags, sprich: der Herzfrequenz des Werkes, das für ihn kein eindeutiges Geschlecht besaß. Verständlich, dass Martha Argerich sofort einen Seelenverwandten in ihm erkannte!
1952 spielte Gulda dasselbe Programm in Rio de Janeiro, und wieder versetzte er sein Publikum in Wallung. Seit dem Tag hieß das musikalische Eldorado für die jüngeren Pianisten aus Südamerika nicht mehr Paris, Berlin oder Moskau, sondern Wien. Große Stücke hielt man auf Bruno Seidlhofer, den Lehrer von Friedrich Gulda, oder auch auf Dieter Weber. Gulda selbst hatte keine pädagogische Ader, aber jedes seiner Konzerte stellte eine höchst aufregende Klavierstunde dar. Mit gerade einmal sechzehn Jahren Gewinner des Internationalen Musikwettbewerbs für Klavier in Genf – er hatte die Jury auf Anhieb mit seiner Interpretation der Sonate Nr. 32 op. 111 und des Klavierkonzerts Nr. 4 von Beethoven für sich eingenommen –, war er bereits Legende geworden, doch mit seinen Gesamtaufnahmen von Bachs Wohltemperiertem Klavier und der messerscharf geschliffenen Beethoven-Sonaten wurde er gleichsam zur Inkarnation einer neuen Bewegung und überdies zum Idol der musikalisch interessierten Jugend.
Er war zweiundzwanzig Jahre alt, Martha elf – und sie war ihm vollends verfallen. Als der Wiener 1953 für mehrere Wochen nach Argentinien kam, stand Juanita sich die Beine in den Bauch, um einen Termin bei ihm zu ergattern. Gulda konnte im wahren Leben genauso schroff und radikal sein wie in der Musik. Wunderkinder langweilten ihn, und er hatte keine Zeit zu verlieren. Aber am Ende ließ er sich dennoch dazu herab, Martha von deren außergewöhnlichem Talent er bereits gehört hatte, eine Audienz zu gewähren. Und dann weigerte sich dieses
drollige zwölfjährige Mädchen mit dem schüchternen Lächeln doch tatsächlich, für ihn zu spielen! Die meisten Wunderkinder stellen sich gern unter Beweis, horten Komplimente und Zuneigungsbeweise – Martha war anders. Falscher Stolz? Übertriebene Demut? Schwer zu sagen. Eines ist auf jeden Fall sicher: Der Wiener hatte mehr Eindruck als jeder andere bei ihr hinterlassen, und sie wollte nicht das Risiko eingehen, ihn zu enttäuschen.
Anfang 1954 kam Gulda wieder auf Tournee nach Argentinien. Er hatte eingewilligt, eine Gruppe als besonders talentiert geltende junge Pianisten und Pianistinnen zu treffen, und er brauchte nicht lange, um diejenige unter ihnen ausfindig zu machen, deren Finger sich ihm gegenüber ein Jahr zuvor so beharrlich verweigert hatten. »Warum so schüchtern, Argerich?«, rief er spöttisch. Um das junge Mädchen nicht völlig zu verschrecken, setzte er sich ans Klavier und spielte einen Satz aus
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