Martha Argerich
brauchte lange Zeit, bis er sich an La Mer heranwagte, ein Werk, das er zutiefst verehrt. Was Martha betrifft, so liebt sie Debussy wahrscheinlich noch mehr als Ravel. Als kleines Mädchen hatte sie seinen Namen »Claude Achille« über ihrem Bett hängen. Und in einem Interview mit einer argentinischen Zeitung bezeichnete sie Debussy als ihren Lieblingskomponisten. (Über Ravel hingegen sagte sie: »Er ist derjenige, der mich liebt.«)
Zwölf Jahre später sollte sie der Deutschen Grammophon Claudio Abbado als Dirigenten für das Klavierkonzert G-Dur von Ravel und das Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur von Prokofjew anempfehlen, die sie dann beide zusammen mit den Berliner Philharmonikern aufnahmen. Abbado dirigierte später auch Gulda bei seinen Mozart-Konzerten, doch es war Maurizio Pollini, mit dem er das Klavierkonzert Nr. 2 von Brahms auf Vinyl verewigte. Man mag bedauern, dass es Abbado nicht gelungen ist, Martha zur erneuten Auseinandersetzung mit der Partitur zu bringen, die den Beginn ihrer Zusammenarbeit markierte.
Obwohl Martha nie eine besondere Vorliebe für die Welt des Johannes Brahms hegte (»Seine Stücke haben den Anschein von großer Tiefe … aber haben sie die wirklich?«), stürzte sie sich nur wenig später auf die Solopartie des Klavierkonzerts Nr. 2 und verinnerlichte diese innerhalb weniger Tage. Für Friedrich Gulda war die Musik von Brahms eher mittelmäßig, zu prätentiös und opulent fand er sie, doch er unterstützte Martha in ihren Bemühungen. Leider hat sie das Konzert nie vor Publikum gespielt, was, wenn man die Qualität ihrer allerersten Plattenaufnahme mit den beiden Rhapsodien op. 79 in Betracht zieht, äußerst bedauerlich ist.
Nach ihrer Rückkehr nach Wien arbeitete Martha noch intensiver mit Friedrich Gulda zusammen. Er hatte ihr gesagt: »Du darfst nur zwei Jahre bei mir bleiben. Mehr nicht.« Sie verließ ihn bereits nach eineinhalb Jahren. Man kann nicht ewig im Paradies verweilen! Sie erarbeiteten gemeinsam die Präludien und Fugen von Bach, die Sonate Nr. 6 F-Dur von Beethoven (eben-
falls voller humoristischer Effekte), die Sonate a-Moll D 845 von Schubert, die Abegg-Variationen von Schumann, das bereits genannte Klavierkonzert Nr. 2 von Brahms, Gaspard de la Nuit von Ravel, die Suite pour le piano und die Préludes von Debussy ( La Sérénade interrompue und La Puerta del Vino ) sowie einige Mozart-Sonaten. Und sogar Chopin, der nicht unbedingt zu Guldas Spezialgebiet gehörte. Martha begann eine Etüde des großen polnischen Komponisten zu spielen, doch nach einigen Takten hörte sie lachend auf: »Das geht nicht!« Daraufhin setzte sich Gulda ans Klavier. »Oh, là là! Bei mir geht es auch nicht!« Und brach in schallendes Gelächter aus. Der Pianist Stephen Kovacevich hat schon mehrfach erklärt, dass Chopin der einzige Komponist sei, in dessen Anwesenheit er nicht hätte Klavier spielen wollen, weil seine Anforderungen so extrem hoch seien. Martha hat diese Äußerung noch überboten, indem sie sagte, dass sie ihn nicht einmal hätte kennenlernen wollen. »Zu kapriziös, zu gequält, er hätte mir das Leben zur Hölle gemacht.« Wen sie hingegen gern getroffen hätte, wäre Schumann gewesen: »Er bringt mich zum Weinen.«
Gulda seinerseits war besessen von Mozart, dessen Präsenz er in Wien überall zu spüren meinte. Gestorben ist er an einem
27. Januar, dem Geburtstag des Komponisten, nicht weit von Salzburg, wo Mozart das Licht der Welt erblickte. Um Martha zu necken, sagte er gern: »Ist schließlich nicht deine Schuld, Argerich, dass Schumann kein Argentinier war.«
Seine einzige richtige Schülerin war Martha – was sie mit großem Stolz erfüllte. Der Pianist hatte ihr eine für damalige Zeiten ziemlich moderne Übungsmethode vorgeschlagen, die sowohl originell als auch effektiv war. Er nahm die Klavierstunden auf, anschließend hörten sie gemeinsam die Bänder ab und sprachen auf ungezwungene, »demokratische« Weise darüber. Manchmal hatte Martha nicht die Kraft zu dieser Selbstanalyse im Unterricht, bei der es durchaus ans Eingemachte gehen konnte. Dann warf sie sich ihren Mantel über und versprach, das Band allein zu Hause abzuhören, doch meistens blieb Gulda unerbittlich. Sie wehrte sich nicht lange, denn er übte großen Einfluss auf sie aus. Er kannte sie genau und wusste, wozu sie in der Lage war. »Für ihn hätte ich alles getan!« Am Ende jeder Unterrichtsstunde schrieb Gulda seine Empfehlungen oder die zu übenden Stücke für das nächste
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