Martha Argerich
Marmor gemeißelten Beethoven-Sonaten prägten den Geschmack einer ganzen Generation von Musikliebhabern. Noch dazu war der Mann von einer ausgesuchten Freundlichkeit.
Einen ähnlich tiefen Eindruck hinterließ ein Konzert Alfred Cortots am 26. Juli 1952 bei ihr, dem Todestag von Evita Perón, die mit dreiunddreißig Jahren einem Krebsleiden erlegen war. Irgendjemand war in der Pause aufs Podium geklettert, um die Nachricht zu verkünden. Cortot, der vor nichts Angst hatte, spielte an jenem Abend alle vierundzwanzig Etüden und vierundzwanzig Préludes von Chopin hintereinander weg. Später dann, nachdem sie seine Schallplatten und Schriften kennengelernt hatte, brachte Martha Argerich eine ganz besondere Hochachtung für den französischen Pianisten auf, für seine Klangfarben, seine Poesie, sein improvisierendes Spiel. Bei ihrer ersten Begegnung mit ihm war sie angesichts von so viel Romantik und so vielen falschen Noten vor allem von Neugier erfüllt. Sehr radikal in ihrem Geschmack, hob sie Glenn Gould in den Himmel, während sie indes Claudio Arrau, »dem Liebling der Bourgeoisie zu jener Zeit«, wie sie ihn rückblickend bezeichnet, überhaupt nichts abgewinnen konnte.
Damals gab es für sie zwei Lager: die Partisanen wie Toscanini oder Casals und die Mitläufer wie Furtwängler, Cortot, Sabata … »Auf der einen Seite diejenigen, die Nein gesagt haben, und auf der anderen Seite die Kollaborateure«, bringt sie es auf den Punkt. Martha fühlte sich natürlich Ersteren zugehörig und fand ihre Freunde entsprechend unter den erklärten linken Musikern wie Maurizio Pollini und Claudio Abbado. Aber sie war auch freigeistig genug, um die künstlerische Bedeutung eines Gieseking oder Cortot anzuerkennen, die als »Rechte« abgestempelt wurden. So war sie auch nicht weiter überrascht, eines Tages in einer Kritik zu lesen, ihr Spiel sei »totalitär« – immerhin stammte sie ja aus einem Land, das jahrelang eine Diktatur war.
1951 endeten Marthas Besuche in der Calle Lavalle. Offensichtlich lag dem ein Zerwürfnis zwischen Juanita und dem berühmten Lehrer zugrunde. Das junge Mädchen erfuhr nie, was der Auslöser für den Streit gewesen war, und war wohl ziemlich unglücklich, Scaramuzza verlassen zu müssen. Dennoch hat sie sich der Entscheidung nicht widersetzt.
Die folgenden drei Jahre nahm Martha Unterricht bei Francisco Amicarelli, einem der talentiertesten Schüler Scaramuzzas, der sein Assistent geworden war. Es heißt, er sei in der Lage gewesen, mit einer unglaublichen Geschwindigkeit ihm unbekannte Kompositionen zu erfassen. Mit ihm übte Martha vor allem, vom Blatt zu spielen, eine Methode, sich stapelweise Notenmaterial anzueignen, ohne wirklich ins Detail zu gehen. Diese neue Art des Übens erweiterte ihr Repertoire enorm. Und noch etwas war neu: Amicarelli ließ sie zwei Präludien und Fugen von Bach und zwei Etüden von Chopin pro Woche vorbereiten. Auf diese Weise vermochte sie in Ruhe das gesamte Wohltemperierte Klavier von Bach und die vierundzwanzig Etüden von Chopin einzustudieren.
Zu jener Zeit hatte sie Gelegenheit, einen Pianisten zu hören, dem die musikalische Welt zu Füßen lag, weil er im Alter von erst zweiundzwanzig Jahren eine geradezu revolutionäre Interpretation der Beethoven-Sonaten vorlegte … In Friedrich Gulda traf Martha Argerich auf einen Künstler, der nicht nur ihrer Generation angehörte, sondern auch ihrer Klasse entsprach, ihre Gefühle teilte und ihr dazu verhelfen sollte, sich selbst zu finden.
Wien
»Zauberzeichen des Glücks« mit Friedrich Gulda
Als sie Friedrich Gulda zum ersten Mal spielen hörte, hatte Martha Argerich das Gefühl, als spürte sie einen frischen Wind. Es war also doch möglich, sich seiner Liebe zur klassischen Musik hinzugeben und gleichzeitig ein freier, offener Geist, jung und unbekümmert zu bleiben! Sie war nicht die Einzige, die von dieser neuen Ästhetik der harten Kontraste und scharfen Konturen überwältigt war. Die Verschmelzung von Virtuosität und Intelligenz war derart glücklich, dass daneben alles andere sentimental, altertümlich oder manieriert wirkte. Zunächst der Rhythmus: gebieterisch, fundamental, klar. Ein entschiedener Respekt vor dem Notentext, mit einem nahezu manischen Präzisionswillen, aber vor allem einer vitalen, körperlichen Energie, die fast schon an Jazzmusik denken ließ.
Ein Jahr nach seinem Debüt in der Carnegie Hall am 11. Oktober 1950 verbrachte der österreichische Pianist einen Monat in Buenos
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