Martha Argerich
eingelassen hatte, für leichte Unruhe im Saal. Maurizio Pollini, der Sympathien für die Sache der Kommunisten hegte, war wütend: »Wir sind trotz allem eine Republik!« Als sein letztes Prüfungsstück mit Orchester hatte der italienische Pianist sich das Klavierkonzert Nr. 4 von Beethoven ausgesucht. Marthas Wahl war auf das Klavierkonzert a-Moll op. 54 von Schumann gefallen, das sie zuletzt mit elf Jahren vor Publikum gespielt hatte. Am Ende erhoben sich die Zuhörer und sogar die Jurymitglieder (ein absoluter Sonderfall in den Annalen der Wettbewerbsgeschichte) wie ein Mann, um ihr zuzujubeln.
Die Preisträger wurden unmittelbar im Anschluss bekanntgegeben. Den ersten Preis in der »Männer-Liga« erhielt der Franzose Dominique Merlet und den ersten Preis der Frauen Martha Argerich. Pollini bekam nur einen zweiten Preis, während der zweite Platz in der »Frauen-Liga« an die Französin Thérèse Castaing vergeben wurde. Martha wurde überdies von der Organisation Jeunesses Musicales International zur »herausragendsten Persönlichkeit beim Wettbewerb« gewählt. Maurizio Pollini beging den Fehler, sich im darauffolgenden Jahr (mit dem Klavier-
konzert Nr. 2 von Brahms) erneut zu präsentieren, um doch noch den ersten Preis zu holen. Die Jury blieb hart und gab ihm wieder nur den zweiten Platz, mit dem wenig tröstlichen Zusatz, man habe sich »einstimmig« dafür entschieden. Georg Solti (1942) und Maria Tipo (1949) waren die einzigen Kandidaten, denen es je gelang, sich als Sieger des Wettbewerbs zu qualifizieren, nachdem sie sich zunächst mit dem zweiten Platz hatten begnügen müssen. Wie die Menschen haben manchmal auch die Wettbewerbe so ihre Marotten.
Martha war mit ihrem Sieg aus dem Jahr 1957 nicht die erste Preisträgerin südamerikanischer Provenienz: Der Brasilianer Jacques Klein, der sich auf diese Weise zu einer Art Nationalheld seines Landes entwickelt hatte, war bereits vor ihr da gewesen.* Die ersten Preise waren im Vergleich zu heute mit einer relativ bescheidenen Summe dotiert (1200 Schweizer Franken), dafür wurde der Sieger von der Firma Rolex mit einer Uhr beschenkt, und es regneten zahlreiche Auftrittsangebote auf ihn nieder.
* Viele Jahre später, 1990, sollte der von Martha Argerich entdeckte und geförderte Argentinier Nelson Goerner den ersten Preis in Genf holen, der zwischenzeitlich »unisex« geworden war.
Dominique Merlet und Martha Argerich begaben sich im Anschluss an den Wettbewerb auf eine kleine Siegertournee: Genf, Basel, Mulhouse … Martha war »charmant, unkompliziert, offen«, so ihr Kollege. Detail am Rande: Ihre Handtasche fiel um, und all die Lire, die sie beim Busoni-Wettbewerb gewonnen hatte, lagen am Boden. Später vergaß sie ihre Gagen in diversen Künstlerzimmern und ließ sich eines Tages sogar 30 000 Schweizer Franken auf dem Flughafen klauen.
Im Journal de Genève vom 14. Oktober 1957 zeigte sich der Kritiker einerseits beeindruckt vom Talent der argentinischen Pianistin, äußerte sich andererseits aber zurückhaltend über ihre musikalischen Entwicklungschancen. »Sie hat eine absolut erstaunliche Technik, dank derer sie in der Lage sein wird, alle möglichen Wege einzuschlagen, gute wie schlechte.« Ihre Bach-Toccata als »interessant« bezeichnend, bedauerte der Journalist, dass sie in der Waldsteinsonate von Beethoven erst im finalen »Rondo« wirklich Empfindsamkeit gezeigt habe. »Je weiter der Abend voranschritt«, kommentierte er, »desto besser konnte man beobachten, wie sich das junge Mädchen mitreißen ließ, ihr Temperament und ihre unglaublichen spielerischen Fähigkei-
ten (eine natürliche Begabung der Argentinier) vollends zum Tragen kamen. Die nächsten zwei, drei Jahre werden über die Zukunft der Martha Argerich entscheiden, die alle Voraussetzungen hat, eine wahrhaft große Pianistin zu werden, und dies auch tatsächlich wird, sofern sie einen Lehrmeister findet, der ihr allzu stürmisches Temperament an die Kandare nimmt und ihr den Königsweg der beherrschten Könnerschaft zeigt (welcher nicht so sehr zum Flanieren einlädt, sondern oft steinig und dornig ist).«
Am selben Tag wurde sie auf der Terrasse des Café Lyrique, wo sie inmitten einer sich lautstark vergnügenden Gruppe junger Leute ein Glas Wein trank, von einem Reporter angesprochen. »Woher kommt Ihre Fingerfertigkeit?«, fragte der Journalist. Die Pianistin war nicht in der Lage, darauf zu antworten. Woher weiß der Tausendfüßler, welchen Fuß er zuerst hebt? Die
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