Martha Argerich
sich im Falle eines Misserfolgs als gestrandet. Martha wusste die Dinge richtig einzuschätzen. Sie ging die »Schlacht« so entspannt wie möglich an. Der Wettbewerb von Genf war ein Ding zwischen Gulda und ihr. Und in Bozen nahm sie teil, um Nikita Magaloff einen Gefallen zu tun, der Mitglied der Jury war und aus diesem Grund unbedingt wollte, dass sie dort ihr Glück versuchte. Und außerdem fand sie in Italien, der Heimat ihres Lehrers Scaramuzza, ein wenig von der Atmosphäre ihres gelieb-
ten Argentinien wieder. Last but not least war der Wettbewerb nach Busoni benannt, dem nach Liszt und Rachmaninow vielleicht größten Pianisten der Geschichte.
Im September 1957, zwei Jahre nach ihrem Umzug nach Wien, kam Martha Argerich also, eine Zigarette im Mund, einen Koffer in der Hand, in Bozen an, jener norditalienischen Stadt an der österreichischen Grenze, die praktisch zweisprachig ist. Nachdem sie sich in dem Mansardenzimmer eines kleinen Hotels in Bahnhofsnähe eingerichtet hatte, bügelte sie noch einmal sorgfältig das von einer Freundin geliehene Kleid und entdeckte einen Riss »in Form einer Sieben« in dem Stoff, was sie im Nachhinein als gutes Vorzeichen deutete. Der Direktor des Konservatoriums von Bozen, Cesare Nordio, hatte 1949 die Idee gehabt, einen Wettbewerb auf sehr hohem Niveau ins Leben zu rufen, um dem italienisch-deutschen Komponisten und Pianisten Ferruccio Busoni eine Würdigung zuteilwerden zu lassen. Kaum war die Nachricht verkündet worden, hatte Arturo Benedetti Michelangeli, der nach einem vielversprechenden Beginn zu der Zeit gerade seine Karriere auf Eis gelegt hatte, spontan einen gewissen Geldbetrag angeboten. Er war Mitglied des Ehrenkomitees, dem so wichtige Persönlichkeiten wie Claudio Arrau, Wilhelm Backhaus, Robert Casadesus, Alfred Cortot, Edwin Fischer, Walter Gieseking, José Iturbi, Dinu Lipatti, Egon Petri, Arthur Rubinstein oder Rudolf Serkin angehörten. Die Liste lädt zum Träumen ein. 1949 hatte der junge Alfred Brendel einen ehrbaren vierten Platz erhalten. 1956 war Maurizio Pollini, gerade einmal vierzehnjährig, Dritter geworden. So viel zur Qualität dieser Veranstaltung. »Von allen Wettbewerben, bei denen ich mitgemacht habe, war der Busoni-Wettbewerb der mit dem höchsten Niveau«, erinnerte sich Martha Argerich später. Trotzdem hatte sie Teile des Progamms, das gefordert wurde und das durchaus anspruchsvoll war, kaum geübt: »Scarbo«, den dritten Satz aus Gaspard de la Nuit von Maurice Ravel, die Klaviersonate Nr. 21 , auch genannt Waldsteinsonate , von Beethoven, zwei Busoni-Préludes, die Sonate D-Dur KV 576 von Mozart, die Sonate Nr. 3 op. 58 von Chopin und die Toccata d-Moll op. 11 von Prokofjew. In der Vorrunde spielt der Kandidat vor drei oder vier Jurymitgliedern, die, um Zeit zu gewinnen, diesen auch gern mitten im Stück abbrechen lassen, wenn sie sich ihre Meinung gebildet haben. Nach ein paar Minuten hörte Martha also: »Ist gut, vielen Dank.« Normalerweise bringt der Aspirant seine Notenflut in diesem Moment zum Versiegen, verabschiedet sich und verschwindet, ohne ein weiteres Wort zu sagen, in den Tiefen der Kulissen, um Platz für den Nächsten zu machen. Martha indes setzte sich über diese Etikette hinweg und wandte sich direkt an die Jury: »Bis später oder auf Wiedersehen?«, fragte sie, als wartete vor der Tür ein Taxi auf sie, um sie zum Flughafen zu bringen. Eine amüsierte Stimme antwortete ihr: »Bis später!« Überzeugt, im Grunde schon längst rausgeflogen zu sein, spielte Martha in jeder weiteren Etappe des Wettbewerbs, je mehr Hindernisse sie überwunden hatte, die geforderten Werke immer besser.
Während sie die Toccata von Prokofjew in einem der Räume des Bozener Konservatoriums übte, lief zufällig der amerikanische Pianist Ivan Davis durch den angrenzenden Flur und blieb sprachlos vor der Tür stehen. Hatte sich etwa der Teufel persönlich in diese heiligen Hallen geschlichen? Als einer der wenigen Schüler von Horowitz war Davis indes niemand, der sich leicht beeindrucken ließ. Aber hier siegte das Natürliche über das Übernatürliche. Von seiner Neugier getrieben, öffnete er die Tür einen Spaltbreit und sah einen Teenager im T-Shirt da sitzen, die Haare in den Augen, das Gesicht zu einer leichten Grimasse verzogen, der seine Finger über die Tasten rasen ließ. Im Gespräch mit Martha lernte er schließlich ein sympathisches, bescheidenes, schüchternes junges Mädchen kennen, mit einem leicht verhuschten Blick
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