Martha Argerich
flüchtete sich die Pianistin zu ihr. In ihrer absoluten Loyalität war die Freundin die Einzige, die ihr zu sagen wagte: »Du bist zu erschöpft, sag diesen Auftritt ab!« Diane hatte mit Karrieredenken nicht viel am Hut, sie dachte nur an Martha, die der Mittelpunkt ihres Lebens war. Und die argentinische Löwin brauchte dringend Menschen, die sie liebten – sie persönlich. Daran hat sich bis heute nichts geändert. »Ich hätte so gern mehr Zeit für mich! Nicht mehr spielen. Vielleicht gar nichts machen, sondern einfach nur endlich an mich selbst denken.«
Dank Magaloff traf Martha in Genf den ungarischen Geiger Joseph Szigeti wieder, mit dem zusammen sie im Alter von elf Jahren im Salon des betuchten Señor Rosenthal in Buenos Aires gespielt hatte. Er war so fasziniert von ihr gewesen, dass er ihr auf dem Rückflug nach Europa gleich einen Brief geschrieben hatte. Szigeti hatte für seine Kammermusikauftritte zwei Pianisten verpflichtet: Nikita Magaloff und Claudio Arrau. Als er Martha wiedersah, wollte er unbedingt erneut mit ihr spielen. Nur sie beide, ohne Publikum. Sie war sehr beeindruckt, als der große Meister darauf bestand, sich erst eine halbe Stunde »warm« zu spielen, bevor er sich mit ihr, dem Teenager, an die Noten heranwagte. Was sich da zwischen Szigeti und Argerich entwickelte, ist sehr außergewöhnlich. Von Szigeti wurde gelegentlich in einer Mischung aus Bewunderung und Belustigung behauptet, sein Instrument klinge wie eine Oboe, wie eine Klarinette, wie ein Horn – nur nicht wie eine Geige. Martha Argerich besitzt die Wandlungsfähigkeit eines Chamäleons, die ihr erlaubt, sich von einer Welt in die nächste zu versenken. Und je reicher diese Welt ist, je einzigartiger, farbenprächtiger, desto mehr fühlt sie sich inspiriert. Bei einem Aufeinandertreffen dieser beiden Musiker musste es daher zu einer höchst interessanten chemischen Reaktion kommen. Damit sich Szigetis Geige tatsächlich wie eine Geige anhörte, brauchte es vielleicht die einfühlsame Begleitung von Marthas Klavierspiel.
Die beiden Wettbewerbssiege hatten Martha Argerich naturgemäß viel Aufmerksamkeit eingebracht, und so trudelten bald die ersten Auftrittsangebote aus der Schweiz, aus Italien und Deutschland ein. Bündelweise Geldscheine unterschiedlicher Nationen, Mark-, Lira- oder Franc-Münzen flogen nun in ihrer Handtasche herum, doch Martha hasste dieses Vagabunden-
leben, dessen Sinn sie nicht recht einsehen konnte. In einem Hotelzimmer in Florenz nahm ihr Unbehagen noch größere Ausmaße als gewöhnlich an. Völlig im Bann von André Gides Die Verliese des Vatikans , jener großartigen Gaunerposse, in der der Autor auf brillante Weise seine Definition des »acte gratuit«[1] kundtut, kam sie auf die Idee, ihr Konzert abzusagen, sozusagen als Versuch eines ästhetischen Manifests. Sie schickte also ein Telegramm an den Konzertveranstalter, in dem sie behauptete, sich am Finger verletzt zu haben. Aus Angst, bei ihrer Lüge erwischt zu werden, oder einfach der Vollständigkeit halber schnitt sie sich anschließend mit einem Messer in den Daumen. Damit war für die Veranstalter jede Hoffnung auf eine musikalische Darbietung dahin. Dummerweise entzündete sich die Schnittwunde nach einer Woche, weshalb sie ein weiteres Konzert absagen musste. Natürlich ging es ihr in dem Fall sehr gegen den Strich, ihre Verpflichtung nicht einhalten zu können …
* Acte gratuit (frz. »willkürliche Handlung«): absurde und meist gewalttätige spontane Handlung ohne erkennbare Motivation, der Zweckfreiheit eines Traums vergleichbar, die als symbolischer Akt der Auflehnung gegen Determinismus und Kausalität zu verstehen ist; fester Begriff in der individualistischen Morallehre und den Romanen von A. Gide. [Anm. d. Übers.]
Im September 1959 spielte sie in Genf das Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin zusammen mit dem Orchestre de la Suisse Romande unter Leitung von Louis Martin. Zwei Jahre waren seit ihrem triumphalen Sieg beim Wettbewerb in dieser Stadt und der schulmeisterlichen Ermahnung des Genfer Kritikers ver-
gangen. Zwei Jahre, in denen Bewegung in die Laufbahn jener
atypischen Künstlerin gekommen war, die sich einst an der Kreuzung von »guten« und »schlechten« Wegen befunden hatte. Der Artikel, der am 26. September 1959 im Journal de Genève erschien, gab ein günstiges Urteil ab: »Dieser junge Tastendämon hat bewiesen, dass er seine vom Himmel empfangenen Gaben zu nutzen weiß. Dank ihrer unglaublichen Gewandtheit
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