Martha Argerich
Lampenfieber hat bei Martha Argerich schon immer die seltsamsten Auswüchse angenommen. Als sie ein kleines Mädchen war, musste man ihr hinterherlaufen. Einmal in Caracas hatte sie rote Flecken im Gesicht und einen fiebrigen Glanz in den Augen. Zu viert haben sie sie auf die Bühne zerren müssen. Wenn sie dann erst einmal am Klavier sitzt, ist alles gut, aber vorher: Was für ein Theater! Dabei gab es nicht ein einziges Mal einen richtigen Grund für ihre Panik, denn nie hat sie etwa Angst davor gehabt, sie könne einen Blackout erleiden – was für die meisten Pianisten die reinste Horrorvorstellung ist. »Das Auswendigspielen war nie ein Problem für mich. Aber das Spielen als solches, das ja!«
Nikita Magaloff ließ sich jedoch nicht von Marthas natürlichen Talenten blenden. Dieser großartige Künstler mit den hellseherischen Fähigkeiten sah und vor allem hörte gleichermaßen, was sich unter der Oberfläche verbarg. Er spürte genau, dass hinter diesem wilden, unbezähmbaren Temperament eine einzigartige Persönlichkeit steckte, die für die Musik geboren war. Es ist eine Sache, von Claude Debussys Genie beeindruckt zu sein, wenn man sein Pas sur la neige hört, aber es ist eine völlig andere vorauszuahnen, dass sich der junge Mann, der die Arabesque Nr. 1 komponierte, am Anfang eines Weges befindet, der ihn bis zu den Préludes führen sollte.
Der hochsensible Russe war überdies ein begnadeter Pianist. Sein Spiel erinnerte an jene Eleganz, die Beau Brummell, der König aller Dandys, als »das Vergessen dessen, was man mit sich herumträgt« definierte. Es war ein gleichsam körperloses Spiel, transparent und souverän. Manch einer bezeichnete ihn als kalt und mondän. Dabei war er ein echter Klassiker. Aus dem Grund mochte ihn auch Martha Argerich so sehr, die mit Distanzlosigkeit und dem Zur-Schau-Stellen von Gefühlen überhaupt nichts anfangen konnte. »Nikita war wie ich, sehr indirekt«, sagt sie vergnügt. Als er einmal bei ihr anrief, nahm Cucucha, die Pianistin, mit der sie sich die Wohnung teilte, den Hörer ab. »Guten Tag, hier ist Nikita. Können Sie bitte Martha ausrichten, dass ich um 18 Uhr fahren werde?« Cucucha: »Ich soll Martha also sagen, dass sie um 18 Uhr da sein soll?« Nikita: »Nein, das habe ich nicht gesagt. Sagen Sie nur, dass ich um 18 Uhr fahre …« Martha muss bei der Erinnerung an dieses Telefonat noch heute lachen. »Cucucha hat diese Art, sich auszudrücken, einfach nicht verstanden. Nikita war eben nicht direkt . Für mich war das perfekt.«
Cucucha war niemand anders als die Argentinierin María Rosa de Oubiña Castro, eine ehemalige Schülerin Scaramuzzas und Freundin Juanitas, mit der Martha bereits im Alter von neun Jahren Bekanntschaft geschlossen hatte und die fünfzehn Jahre älter war als sie. Für ein paar Monate teilten sich die beiden eine Wohnung – und ein Klavier – in der Rue Docteur-Alfred-Vincent, was reibungslos funktionierte, weil die eine übte, wenn die andere schlief. Auf diese Weise »lernte« Martha im Tiefschlaf das Klavierkonzert Nr. 3 von Prokofjew kennen, das Cucucha damals einstudierte. Sie spielte sogar eine falsche Note mit, die ihre Mitbewohnerin übersehen hatte … Dieses Klavierkonzert ist gewissermaßen zu einem Paradestück Marthas geworden. Sie beherrscht es aus dem Effeff. »Ich kenne es besser als den Inhalt meiner Handtasche«, erklärt sie lachend. Zum ersten Mal spielte sie es öffentlich im norwegischen Stavanger, im Alter von neunzehn Jahren. Das Orchester bestand aus Profis und Laien, die während der Generalprobe Alkohol tranken und am nächsten Tag sturzbetrunken zum Auftritt erschienen.
1957 lernte Martha während des Genfer Wettbewerbs die Pianistin Christiane Souré (genannt Diane) kennen, die zu ihrer besten Freundin wurde. Als sie die Klangfülle hörte, die ihre Kameradin hervorbrachte, begriff Diane, dass es sinnlos war, den eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten. Sie hatte ihr Vorbild gefunden und wusste, dass sie es niemals erreichen würde. Auf der anderen Seite muss Martha Diane darum beneidet haben, dass sie sich der pianistischen Ochsentour entziehen konnte. Nie mehr Konzerte geben! Biologin, Botanikerin oder Journalistin werden – ihr Traum! Selbst beobachten und nicht mehr beobachtet werden, Fragen stellen und nicht mehr beantworten müssen! In ihrer sanften, aufmerksamen und stets hilfsbereiten Art war Diane für Martha eine wichtige Stütze. Nach jeder Trennung, bei jedem größeren Kummer
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