Martha Argerich
Träumen eines jeden Pianisten, der, koste es, was es wolle, auf einem Schlaginstrument »singen« möchte. Clara Haskil war eine komplizierte Persönlichkeit und nie zufrieden mit sich selbst. Nach einem Auftritt konnte es vorkommen, dass sie ohne ein Wort des Abschieds den Saal verließ, um das Programm allein zu Hause noch einmal zu spielen. »Ein echter Steinbock«, so Martha leicht ironisch.
Die Argentinierin verstand sich sehr viel besser mit der exzentrischen Youra Guller, die mit Clara Haskil seit den gemeinsamen Studienjahren am Pariser Konservatorium befreundet war. Auch sie war von ihrer Herkunft her eigentlich Rumänin, wurde aber in Marseille geboren (ihr tatsächlicher Name war Georgette). Wirklich Erfolg haben sollte sie in Frankreich nie. Dennoch erhielt sie ihren ersten Preis ein Jahr vor ihrer Landsmännin. Alfred Cortot, der ihrer beider Professor war, zog ihr Klavierspiel dem von Clara Haskil vor, von der er bösartigerweise behauptete, sie spiele »wie eine Hausfrau«. Hinter Youra Gullers überschäumender Fantasie und ihrem heiteren Naturell verbarg sich ein echtes Drama: Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, was ihr älterer Bruder ihr nie verzieh. Zu sehr dem Leben der Boheme verhaftet, um eine ernsthafte Karriere voranzutreiben – sie war auch eine begnadete Flamencotänzerin –, beschloss die Pianistin ihre Tage im Elend. »Sie hat nicht den eisernen Willen von Clara«, sagte Magaloff oft. Erschüttert von ihrer Not, organisierte Martha ein Konzert zu ihren Ehren in der Carnegie Hall und forderte befreundete Musiker auf, sie finanziell zu unterstützen. Trotz allem vermochte sich Youra Guller ihren Humor zu bewahren. Als Yehudi Menuhin sie zu seinem Festival in Gstaad einlud, gestand sie ihm: »Die Leute gucken mich an, als hätte man eine Leiche ausgebuddelt.« Obwohl Geld für Martha nie eine Rolle gespielt hat – »Ich habe im Laufe meines Lebens mal sehr wenig und mal sehr viel Geld besessen, das war nie anders« –, hat sie noch vor Kurzem die Befürchtung geäußert, eines Tages so zu enden wie Youra Guller: einsam und verarmt.
In Genf wohnte Martha zunächst bei einer gewissen Madame Pascali, in der Route de Chêne 15, dann in der Nummer 18 bei einer Madame Ullmann. Sie musste mit den siebenhundert Schweizer Franken auskommen, die ihre Mutter ihr jeden Monat schickte. Sie mietete sich einen Flügel, der den ganzen Raum im Zimmer einnahm, und schlief auf einer Matratze. Nichts Außergewöhnliches für Vertreter ihres Fachs: In Moskau schlief Richter beispielsweise unter dem Flügel seines Professors Neuhaus. Die Miete für den Flügel war genauso hoch wie die für das Zimmer: achtzig Schweizer Franken. Sie ernährte sich von einem Tagesgericht à zwei Franken fünfzig im Café um die Ecke. Den Rest ihres Budgets gab sie für Zigaretten und Kaffee aus.
In der Schweiz fühlte sich Martha noch freier als in Wien. Doch ihre Mutter hörte nicht auf, sie aus der Ferne zu bevormunden. In einer Mischung aus Resignation und Fatalismus ließ die Pianistin sie machen, wobei sie oft genug Juanitas Pläne durchkreuzte.
Nicht selten erschien sie einfach nicht zu den Terminen oder Vorspielen, die ihre Mutter mühsam organisiert hatte.
Mit sechzehn Jahren nahm sie allerdings trotz allem an den beiden prestigereichsten Wettbewerben der Welt teil, der eine wenige Tage im Anschluss an den anderen. Ungeachtet ihrer Scheu, in der Öffentlichkeit zu spielen, fand Martha schon immer Gefallen an Match-Situationen. Immerhin hatte sie zum Klavierspielen überhaupt nur gefunden, weil ein Kindergartenkamerad ihr den Fehdehandschuh vor die Füße geworfen hatte. Davor hatte sie schon von ihrem Vater eine gewisse Liebe zum Risiko eingeimpft bekommen, als er sie an den Ellbogen gepackt und über einen Abgrund gehalten hatte. Obwohl Martha sich ihrer Fähigkeiten durchaus bewusst war, ging es ihr keinesfalls ums Gewinnen. Ihr war klar, dass schon häufig große Künstler gegen Kollegen verloren hatten, die einfach besser vorbereitet waren, von denen kurze Zeit später aber niemand mehr sprach. Mit anderen Worten: Sie spürte instinktiv, dass ein Wettbewerb die Bedeutung hat, die man ihm geben will, dass das Ganze aber nichts mit dem eigentlichen Wesen eines Künstlers oder gar mit dem Gelingen einer Karriere zu tun hat. Wenn man gefällt, ist es gut, wenn man nicht gefällt, ist es auch nicht weiter schlimm. Die meisten Kandidaten meinen, die Helden des Kampfplatzes zu sein, wenn sie gewinnen, und betrachten
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